Warum wir so viel mehr als Bauhaus brauchen

Don Norman über die Vorbildfunktion der Bauhaus-Gestaltung

Die in den Jahren 1919–1933 in Deutschland aktive Bauhaus- Bewegung markierte einen Wendepunkt in der Entwicklung des Designs und seiner gesellschaftlichen Funktion. Sie hatte einen starken Einfluss auf den künstlerischen Stil jener Zeit. Heute ist sie für viele Designer eher von historischem Interesse. Don Norman, der Autor von „Things That Make Us Smart“, stellt die berechtigte Frage: Was hat sich geändert?

Peter Belanger

Zur Person

Don Norman (San Diego) ist Kognitionswissenschaftler und Gründungsdirektor des Design Lab der University of California.

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Das Bauhaus entstand gleichermaßen aus Handwerk wie aus Kunst. In seinem Zentrum stand die Form. Obwohl die Bauhaus-Ideen einst äußerst einflussreich waren, ist deren Wirkung längst abgeflaut. Der Grund dafür liegt in der starken Betonung des Künstlerischen; den Verbrauchern hingegen, für die schließlich die Gegenstände entworfen wurden, schenkte das Bauhaus nur wenig Aufmerksamkeit. Praktische Verwendbarkeit und Alltags- gebrauch wurden nicht thematisiert. Auch die Architekten legten den Schwerpunkt eher auf die Form und nicht auf die Menschen, die in der nüchternen, sterilen Umgebung wohnen und arbeiten mussten.
Die Geschichte der Bauhaus-Bewegung weist ein interessantes Paradoxon auf. Obwohl das Bauhaus einen großen kulturellen Einfluss auf Design als Kunstform hatte, gelang es ihm nicht, auch nur einen einzigen Gegenstand hervorzubringen, der das Leben von Menschen in irgendeiner Weise grundlegend verändert hätte. Warum reflektierte das Bauhaus nicht über das Wesen der Dinge und dachte über Wege nach, wie die Produkte das Leben und den Alltag von Menschen beeinflussen können?

Bauhaus-Staubsauger? Fehlanzeige!

Heute genießen Designer die Möglichkeit, vollkommen neue Arten des Arbeitens, des Spielens und der Lebensweisen zu erfinden. Beim Bauhaus lag die Betonung hingegen auf der Einfachheit – was großartig ist, solange man schlichte Dinge wie Küchengeräte, Geschirr, Besteck oder Schmuck entwirft. Doch da die Welt komplex ist, müssen auch die Dinge komplex sein, die uns zur Verfügung stehen, um in dieser Welt zu arbeiten. Komplexität ist die Realität. Einfachheit dagegen findet im Kopf statt – es ist die Aufgabe des Designers, das Komplexe verstehbar und nutzbar zu machen. Und wenn ein komplexer Gegenstand leicht zu verstehen ist, nennen wir ihn „einfach“. Das Bauhaus interessierte sich für diese Dinge nicht. Stattdessen konzentrierte man sich auf Gegenstände, die zu dem kunsthandwerklichen Designstil passten. Man arbeitete an einfachen elektronischen Geräten wie zum Beispiel schlichten Radios. Man hat sich aber nie die Frage gestellt, wie Design wirklich komplizierte Geräte verständlich machen könnte. Das ist die Herausforderung, die sich heute stellt. Schöne Gegenstände herzustellen, ist im Vergleich zu der Herausforderung, komplizierte Gegenstände verstehbar zu machen, relativ einfach.

Werfen wir einen Blick auf den kreisförmig angelegten Lehrplan des Bauhauses, wie ihn Walter Gropius 1922 entwickelt hat. Er umfasst drei Studienjahre, die mit Formenlehre und Materialstudien beginnen und zu fortgeschrittenen Themen in den Bereichen Materialien, Komposition und Konstruktion übergehen. An keiner Stelle werden Menschen erwähnt. An keiner Stelle wird der Gebrauch von Gegenständen erwähnt. Es geht ausschließlich immer nur um Form. Während der Zeit des Bauhauses wurden alle möglichen neuen Geräte zum Gebrauch in Wohnungen und Büros auf den Markt gebracht: Phonographen, Schreibmaschinen, Staubsauger und Waschmaschinen sowie Kühlschränke und neue Typen von Backöfen. Hat das Bauhaus über diese Dinge nachgedacht oder neue Designs für sie entworfen? Nein. Was brauchen wir heute? Wir brauchen ein Design, das uns wegführt von der äußeren Erscheinung und sich auf die Handlungen der Menschen und ihrer Bedürfnisse konzentriert, die diesem zugrunde liegen. Brauchen wir weiterhin schöne Dinge? Natürlich. Aber das ist nur ein Aspekt von vielen, die zu berücksichtigen sind.

Von der Formgestaltung zur User Experience

Heute konzentrieren wir uns auf die Menschen, die unsere Produkte verwenden. Wir beobachten sie, sprechen mit ihnen, probieren unsere Ideen an ihnen aus. Manchmal entwerfen wir mit ihnen gemein- sam. So etwas war für die Leute vom Bauhaus undenkbar. Für uns hingegen gelten heute ganz andere Designprinzipien, da wir die Menschen in den Entwurf einbeziehen. Dies geschieht insbesondere da- durch, dass wir deren Fähigkeit berücksichtigen, immer komplexere Technologien zu verstehen und sie anwendbar zu machen. Die Aufgabe des Designers heute ist es, das Komplexe einfach erscheinen zu lassen.

Seit der Zeit des Bauhauses hat die Gestaltung große Fortschritte gemacht. Heute unterteilt sie sich in viele verschiedene Spezialgebiete, darunter Bereiche, deren Perspektive sich von der früherer Zeiten stark unterscheidet: Interaktionsdesign, User-Interface Design, User Experience – alle diese Bereiche sind neu. Ich selbst verstehe mich als kognitiver Designer, ein Begriffen, den ich damals nur schwer hätte erklären können. Design hat inzwischen einen entscheidenden Anteil an der Hervorbringung und Entwicklung von Produkten. Begriffe wie Angebotscharakter, Signifikanten, Zwänge und mentale Modelle kamen im Vokabular des Bauhauses nicht vor. Die Vorstellung, dass es notwendig sein könnte, hinauszugehen und die zukünftigen Nutzer der Entwürfe über Wochen zu beobachten, wäre ihnen gar nicht in den Sinn gekommen. Vermutlich hätte es ihnen auch widerstrebt. Solche Aktionen sind eigentlich nicht schwer zu verstehen. Der Umstand aber, dass sie damals dafür gar keinen Sinn entwickelt haben, ist nicht auf das Fehlen eines entsprechenden Vokabulars zurückzuführen, sondern vielmehr darauf, dass solche Ideen sich auf die Tätigkeit der Menschen konzentrieren und auf die Art und Weise, wie sie Produkte verwenden und begreifen. Für mich deutet kaum etwas darauf hin, dass sich die Bauhäusler je mit diesen Dingen beschäftigt haben.

Heute, nur knapp 100 Jahre später, leben wir in einer komplett anderen Welt. Die Dinge, die uns beschäftigen, sind andere als die, mit denen sich die Mitglieder des Bauhauses beschäftigten. Wofür ist das Bauhaus heute bekannt? Für Form. Für Stil. Für die Betonung der äußeren Einfachheit. So erfahren Bauhaus-Laien schon auf Wikipedia: „Einen seiner wichtigsten Beiträge leistete das Bauhaus
 im Bereich des modernen Möbeldesigns.“ Doch heute ist die Welt des Designs weitaus umfangreicher als Möbeldesign. Die Bauhaus- Bewegung beförderte den obskuren Beruf des Designers in das mächtige Reich der Kunst. Das hatte vermutlich großen Einfluss auf die zunehmende Bedeutung der Gestaltung in der gegenwärtigen Industrie. Heutzutage streben Designer jedoch nach weit mehr als nur dem Entwurf von Gegenständen. Design ist eine bestimmte Art zu denken und kann auf jeden Bereich eines Unternehmens angewendet werden, ja auf jeden Aspekt der Gesellschaft.

Design im
 21. Jahrhundert

Der Ansatz von modernen Designern, zentrale Kernprobleme durch Kreativität zunächst zu erkennen und sie dann zu lösen, kann auf die meisten Problemfelder der Welt angewendet werden – sei es in der medizinischen Versorgung, der Bildung, im Verkehr oder in der Unterhaltung.

Für das Bauhaus war Gestaltung lediglich eine Form der angewandten Kunst – eine Auffassung, die ich für grundlegend falsch halte. Sie erzeugt den irreführenden Eindruck, Designer würden einfach nur schöne Gegenstände herstellen. Design aber ist eine Art zu denken, sich den elementaren Bedürfnissen der Menschen und der Gesellschaft zuzuwenden. Manche Dinge, die wir entwerfen, haben keine physische Struktur: Kunst, Materialien, Form haben wenig oder keine Bedeutung. Aber wenn die Dinge, die wir entwerfen, greifbar oder sichtbar sind, dann spielt Form natürlich eine Rolle. Selbst dann würde ich die Form dem Nutzen unterordnen: Designer schaffen Dinge, damit Menschen sie nutzen können. Sie müssen verständlich sein, nutzbar sein, sich gut anfühlen. Für mich ist das Äußere zwar extrem wichtig, aber es muss immer der Nützlichkeit untergeordnet sein. Die großen Designer wissen, wie man angenehme, schöne Gegenstände schafft, die gleichzeitig funktional, verstehbar und nutzbar sind. So sollte das Design des 21. Jahrhunderts sein – in diesem Zeitalter von immer komplexerer Technik, die ohne die Hilfe von Designern unverständlich, frustrierend wäre und eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen würde.

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Design kann sich der entscheidenden Probleme unseres Zeitalters annehmen. Die Bauhaus-Bewegung hatte große historische Bedeutung. Heute aber brauchen wir mehr. Aristoteles wird als einer der Vorfahren der wissenschaftlichen Herangehensweise angesehen, obgleich seine eigentlichen Texte und Schriften zur Wissenschaft und Technik von heutigen Forschern vollkommen ignoriert werden. So geht es mir mit dem Bauhaus: Ich bin dankbar für das, was es geleistet hat, aber ich finde, dass es für die komplexen Probleme, denen wir uns heute gegenübersehen, keine Relevanz mehr besitzt. 

Dieser Artikel stammt aus der ersten Ausgabe des Magazins „bauhaus now”.

    [DN 2017; Übersetzung: NF]

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