„Wo ist der Mehrwert? Wo ist die Poesie?”

Michael Sorkin über die Relevanz architektonischer Überzeugungen des Bauhauses

Die drei Bauhausdirektoren laden zum Stelldichein: Geladen ist Michael Sorkin, einer der profiliertesten Architekten und Architek­turjournalisten der Gegenwart. Sie wollen wissen, was man 100 Jahre nach der Gründung ihrer Schule von den Ideen der Bauhäusler hält. Michael steht ihnen Rede und Antwort.

Friederike Hantel
Inwieweit kollektive Gestaltungsprozesse einen demokratischen Charakter besitzen, ist noch nicht beantwortet.

Zur Person

Michael Sorkin (New York) ist ein weltweit bekannter Architekt und Autor. Seine Arbeit umfasst Design, Forschung und Lehre. Er ist Präsident von Terreform.

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Auch 100 Jahre nach seiner Gründung hat das Bauhaus den Gestaltern der Gegenwart noch etwas zu sagen, heißt es. Doch was wäre, wenn drei der bekanntesten Bauhäusler tatsächlich mit einem Architekten von heute sprechen könnten? Wir wagen das Experiment – und Michael Sorkin war so frei, sich auf dieses außergewöhnliche Gespräch einzulassen. Grundlage bilden historische Zitate von Walter Gropius, Hannes Meyer und Ludwig Mies van der Rohe.

Ludwig Mies van der Rohe: „Wir sollten uns bemühen, Natur, Häuser und Men­schen zu einer höheren Einheit zusammenzubringen.“

Wer möchte dem widersprechen, Mies? Ich gehe davon aus, dass dir eine Art ganzheitlicher Zusammen­schau vorschwebte. Aber die „Ein­heit“ ist nur illustrativ und ihre kon­ zeptionelle Veralterung zeigt sich in dem wirklich altmodischen Pastora­lismus: der harmonischen Komposi­tion der Dinge im Garten. Nicht, dass damit etwas nicht stimmt! Aber wir sind unserer Auffassung von der Komplexität der „Natur“ und unse­rem Platz darin ein gutes Stück näher gekommen. Es muss ja ein Vermögen kosten, das Farnsworth House zu heizen und zu kühlen!

Walter Gropius: „Eine moderne, harmo­nische und lebendige Architektur ist das sichtbare Zeichen einer authentischen Demokratie.“

Für diejenigen von uns, die in den 1960er­Jahren geprägt wurden und sich selbst als politisch betrachten, ist das Problem, inwieweit kollekti­ves Design gute Ergebnisse erzielen kann – und gute Ergebnisse, die in gewisser Hinsicht eine Vorstellung von Demokratie in sich bergen, die aus dem Prozess der Zusammenar­beit entsteht –, immer noch unge­löst. Architektur drückt immer Werte aus. Sie kann gar nicht anders, weil sie das Zuhause menschlicher Aktivitäten ist, die niemals neutral sind. Die Schwierigkeit entsteht, wenn sie versucht, die Beziehung von architektonischen Formen und menschlichen Verhaltensweisen zu akribisch zu reglementieren, weil sie sich sehr leicht auf ein gefährliches Terrain begibt, das von Zwang und Unterdrückung geprägt ist.

Die Zeiten, in denen man von schwebenden Objekten in einem nicht näher definierten Raum fantasierte, sind vorbei.
Friederike Hantel
Die Zeiten, in denen man von schwebenden Objekten in einem nicht näher definierten Raum fantasierte, sind vorbei.

Wir bauen keine Kirchen

Michael Sorkin

Ludwig Mies van der Rohe: „Die moder­nen Gebäude unserer Zeit sind so gewaltig, dass man sie gruppieren muss. Manchmal ist der Raum zwischen diesen Gebäuden so bedeutend wie die Gebäude selbst.“

Um deinem Pastoralismus weiter auf den Grund zu gehen, Mies: Du sprichst jetzt von der typisch modernen Angewohn­heit, große Objekte in einer ent­scheidenden Leere zu entsorgen. Aber diese Fantasie von Türmen im Park (was du von Corbusier ver­ standen hast) ist ermüdend. Nicht nur weil andere Ideen über die Kom­position architektonischer Ensem­bles aufgekommen sind (oder wie­ dergefunden wurden), sondern auch wegen der Nutzung jenes Zwi­schenraums, den ihr hauptsächlich als Kulisse versteht. In Wahrheit warst du kein besonders großer Urbanist. Nur wenn du ein Stadtge­bäude als klar definiertes Einzel­stück und als Kontrast zu seinem Kontext schaffen wolltest – wie das unsterbliche Seagram Building –, hast du Schmuckstücke hervorge­bracht. Aber die Verallgemeinerung wurde zu einem Albtraum.

Hannes Meyer: „Wir untersuchen den Ablauf des Tageslebens jedes Hausbewohners, und dieses ergibt das Funktionsdiagramm für Vater, Mutter Kind, Kleinkind und Mitmenschen. Wir erforschen die Beziehungen des Hauses und seiner Insassen zum Fremden: Postbote, Passant, Besucher, Nachbar, Einbrecher, Spielkamerad, Handwerker, Krankenpfleger, Bote.“

Gut gesagt, Hannes! Das ist eine Bemerkung, von der ich denke, dass ich sie auf den Tag, den Monat, das Jahr und die Minute genau datieren könnte. Es ist auch die prägnante Beschreibung einer operationalisierten Architektur, wie sie noch jetzt praktiziert wird. In der Tat bleibt die­ser schematisierende Diskurs der Funktionalisten die Muttersprache nicht nur der Moderne, sondern der Architekturbuchhaltung überhaupt. Obwohl sich der Stil bei den Parame­trikern etwas unterscheidet, ist er immer noch ausdruckslos und völlig gutgläubig. Der Schüler präsentiert und versucht die Größe des Raums, den Ort der Nutzung und das unter­stützende Verhalten zu erklären, als ob diese Beziehungen automatisiert werden könnten. Dein Rap ist durch­aus okay (und keine Architektur sollte die funktionalen und emotiona­ len Realitäten des täglichen Lebens ignorieren), aber, Hannes, wo ist der Mehrwert? Wo ist die Poesie? Wo ist die Exzentrik? Wo ist der Unter­schied? Wenn Architekten wirklich in der Lage wären, Psychoanalytiker eines jeden Individuums zu sein, für das sie arbeiten, könnten sicher ein interessanter Austausch und ein interessantes Ergebnis entstehen.

Wer Ästhetik im Wohnungsbau für verzichtbar hält, läuft Gefahr, den Helden der Arbeit auf den Status eines Roboters zu reduzieren.
Friederike Hantel
Wer Ästhetik im Wohnungsbau für verzichtbar hält, läuft Gefahr, den Helden der Arbeit auf den Status eines Roboters zu reduzieren.

Hannes Meyer: „Das Bekenntnis zur fort­schrittlichen Architektur ist ein poli­tisches Bekenntnis, denn ihre Geburtsstätte ist die Barrikade und nicht das Reißbrett.“

Volltreffer! Deswegen lieben wir dich, Hannes. Du sagst es, wie es ist. Oder war. Oder sein sollte! Deine Aussage erkennt an, dass politische Orte nicht der architektonischen Sprache entstammen. Dass Archi­tektur das Umfeld ist, in dem Veran­staltungen stattfinden. Du sagst das, indem du das Umfeld bevor­ zugst – wir verstehen Architektur nicht nur als ein Repräsentationssystem, sondern als eine Vertei­lungsmaschine. Die ungeduldige Suche nach Gerechtigkeit in der Architektur (oder anderswo) beginnt mit einer Theorie des Rechts, der Ansprüche und der Freiheit. Ich denke, dies ist wahrscheinlich die prägnanteste und ansprechendste Aussage, die ich bisher von euch gehört habe. Völlige Zustimmung.

Walter Gropius: „Die Furcht, dass die Indi­vidualität infolge der zunehmenden „Tyrannei“ der Standardisierung zerstört wird, ist ein Mythos, der nicht der geringsten Überprüfung standhält.“

Das ist deine Religion, Walter! Wie immer voller Frömmelei und Über­heblichkeit und ohne jede Nuance. Da sitzt du, lebst ziemlich großzügig in Lincoln, Massachusetts, bist Dekan an der Uni der Unis und schlägst einheitliche Arbeiterwohnungen für jeden Proletarier auf dem Planeten vor. Unerträglich. Grenzwertige Heuchelei! Offensichtlich gab – und gibt – es eine Romanze zwischen industriellen und technologischen Prophezeiungen und der Massen­produktion. Die positive Seite dieser Liebesbeziehung bestand darin, dass die Massenproduktion die Aussicht auf Überfluss bot, wenn sie für gute Zwecke genutzt und die Produktionsmittel geteilt wurden. Aber Fab­rikarbeit und ein Ford in der Garage waren immer auch der Königsweg zu Konformität, Entfremdung, Ausbeu­tung, Verlust der Identität und Herr­schaft durch großes Geld. Vergessen wir nicht, dass Henry Ford ein ver­dammter Faschist war.

Hannes Meyer: „Bauen ist ein technischer, kein ästhetischer Prozess, und der zweckmäßigen Funktion eines Hauses widerspricht die künstlerische Komposition.“

Eine weitere Aussage aus der hohen Zeit heldenhafter Gewissheit – so altmodisch (und von deinem eige­nen Werk widerlegt)! Zu behaupten, dass das Künstlerische aus Gebäu­den ausgeschlossen werden sollte, bedeutet, Ästhetik in einem sehr traditionellen Rahmen des 19. Jahrhunderts zu verorten. Sehr! Auf der anderen Seite gab es Leute in und um das Bauhaus, besonders zu dei­ner Zeit, die von der Idee, dass es eine größere Freude an der Herstel­lung, der Kunst der Herstellung, geben sollte, völlig überzeugt waren. Die Gefahr dieser extremen Vereinfachung besteht darin, dass sie den Arbeiter, der sonst gefeiert wird, auf den Status eines Roboters reduziert. Diesen Implikationen muss man widersprechen, auch wenn man versteht, wie du in deiner Zeit solche klingelnden Erklärungen voller Gewissheit machen konntest, ja machen musstest.

Was hältst du vom IS?

Michael Sorkin

Ludwig Mies van der Rohe: „Das ganze Streben unserer Zeit ist auf das Profane gerichtet. Die Bemühungen der Mystiker werden Episode bleiben. Trotz einer Vertiefung unserer Lebensbegriffe werden wir keine Kathedralen bauen.“

Der kulturelle Apparat, der mit dem Funktionalismus einhergeht, ist der Säkularismus. Aber es gibt zwei Widersprüche zu deiner Behaup­tung, Mies. Einer davon ist natürlich die offensichtliche Möglichkeit, weltliche Kathedralen zu be­nennen. In Flauberts „Wörterbuch der Gemeinplätze“ sind das die Bahnhöfe und im ganzen 19. Jahrhundert war es eine Plattitüde, sie Kathedralen zu nennen. Auf der anderen Seite möchte ich dich fragen: Was hältst du vom IS? Das Unheim­lichste, das gerade geschieht, ist eine Flut von Irrationalitä­ten, und sie fegt durch jedes Land auf dem Planeten. Nennst du das profan? Und was ist mit virtuelleren Kathe­dralen? Die Radiowellen, die ein halbes Jahrhundert Wie­derholungen der Serie „I Love Lucy“ erzeugt haben, sind schon Lichtjahre von der Erde entfernt. Warum also den Standort des Spirituellen auf Bauwerke beschränken? Die Erde ist jetzt von einer Lichtjahre langen Sit­-com­-Aura umgeben, die in alle Rich­tungen rast. Da ist deine mystische Kathedrale!

Walter Gropius: „Gute Architektur sollte eine Widerspiegelung des Lebens selbst sein, und das impliziert eine intime Kenntnis biologischer, sozia­ler, technischer und künstlerischer Probleme.“

Wenn es in der Architektur nicht um menschliches Leben geht, geht es um nichts. Aber es gibt so viele verschie­dene Einstellungen, in denen Archi­tektur produziert werden kann. Alle Ideen haben ein Recht auf Leben, wie kurz auch immer. Ich werde sicherlich nicht gegen den Kampf für eine demokratischere Architektur protes­tieren, die ich als eine Frage des Zugangs zum architektonischen Gut verstehe, besonders in der Lesart von Henri Lefebvres „Recht auf die Stadt“, dem Recht also, sich die Stadt – oder das Gebäude, in dem du wohnen willst – zu erträumen. Völlig einverstanden, obwohl man auch hier eine Art Ideenverzögerung beobach­ten kann, wie immer bei dir. Ich weiß nicht, ob du jemals Patrick Geddes gelesen hast, der schon 50 Jahre vor dir, Walter, den Urbanismus völlig biologisch verstand. Ideen brauchen eine Weile, um sich zu sammeln und zu festlegen, erst gibt es Widerspruch, und dann kommt die Sache groß raus.

Das Bauhaus war ein unglaubliches und wertvolles Experiment, das willkürliche Grenzziehungen überwunden hat.
Friederike Hantel
Das Bauhaus war ein unglaubliches und wertvolles Experiment, das willkürliche Grenzziehungen überwunden hat.

Darum lieben wir dich, Hannes!

Michael Sorkin

Hannes Meyer: „Wenn du uns dreien eine Frage stellen oder uns sagen könntest, was deiner Ansicht nach unserer Bewegung und der Bauhaus-Architektur schiefgelaufen ist – was würdest du am meisten kritisieren, oder wovon würdest du am ehesten behaupten, dass wir uns glücklicherweise nach hundert Jahren nicht mehr damit herumschlagen müssen?

Ich habe absolut kein Bedürfnis danach, ein so unglaublich wertvolles Experiment, einen so monumentalen Gegenschlag (eine Kathedrale des Widerspruchs!) gegen bestimmte Handlungsgewohnheiten irgendwie zu kritisieren. Wie du vielleicht herausgehört hast, mag ich dich beson­ders, Hannes, und deine Bemühun­gen, der Architektur eine kritische Vorstellung des Politischen zu ver­mitteln. Auf der anderen Seite, was ist am Barcelona Pavillon nicht zu mögen? Einer der Erfolge des Bauhauses war trotz seiner kurzen Dauer, dass es eine viel größere Bandbreite an Ausdrucksformen annehmen konnte, als wir es derzeit tun. Schau dir allein euch drei Jungs an! Wir suchen einen neuen Dekan an meiner Architekturschule. Ich will den Job nicht, aber ich weiß, wenn ich der Dekan wäre, würde ich etwas sehr Bauhausiges machen wollen: eine wirklich radikale Infragestellung die­ser behaupteten Grenzen zwischen den professionellen Disziplinen. Die haben schon für euch Bauhaus­-Leute nicht viel Sinn gemacht, und ich denke, sie machen heute noch weni­ger Sinn. Wir sind verkrüppelt von der Engstirnigkeit dieser disziplinären Definitionen und es ist Zeit, die Idee einer Gestaltungspraxis mit einer viel breiteren Palette von Quellen und Bedeutungen neu zu durchdringen. Zeit, die Architektur als Mutter vom Thron zu stoßen, die ganze leblose Kathedrale einzureißen! In diesem Sinne: Danke, ihr Bauhäusler!

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Herr Sorkin, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Dieses Interview stammt aus der zweiten Ausgabe des Magazins „bauhaus now”.

    Das Gespräch führte Nicolas Flessa [2018]

    Hierzu haben wir leider nichts gefunden!

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