Bildung durch Sabotage
Rathna Ramanathan über Gestaltungspädagogik im postkolonialen Kontext
Die moderne Besessenheit von uns selbst ist für Rathna Ramanathan, Studiengangsleiterin am Royal College of Art, nicht nur die Folge überforderter Erziehungsberechtigter. Sie ist auch das Ergebnis einer kulturellen Egozentrik im Rahmen unserer Ausbildung an Schulen und Universitäten.
Zur Person
Rathna Ramanathan (London) ist Designforscherin mit den Schwerpunkten interkulturelle und experimentelle Kommunikation. Sie ist Leiterin der School of Communication am Royal College of Art.
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Als ich im Rahmen meines Postdoc-Studiums zum ersten Mal nach Europa kam, erschien mir dieser Fokus auf das Individuum und das eigene Selbst verwirrend und faszinierend zugleich. Ich bin in Indien aufgewachsen, wo man in dem Glauben erzogen wird, die Gemeinschaft übersteige das Selbst und Pflichten und Aufopferung seien wichtiger als die eigenen Bedürfnisse. Doch im Laufe meines Studiums in Großbritannien wurde ich mehrfach daran erinnert, dass selbst meine indische Ausbildung tief in der europäischen Logik moderner Gestaltungspädagogik verwurzelt war.
Bevor Indien die Unabhängigkeit von Großbritannien erlangte, besuchte Rabindranath Tagore 1921 das Bauhaus in Weimar. Tagores Interesse hatte einen ganz bestimmten Grund: Einige Zeit zuvor hatte seine Familie außerhalb der quirligen Stadt Kalkutta mit Shantiniketan einen Ort des Lernens gegründet, der dem Ziel diente, die Ausbildung aus den Klassenzimmern hinauszutragen.
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Tagore entwickelte dieses Konzept weiter zu einer Vision, die auf Humanismus, einem internationalen Curriculum und den Prinzipien einer nachhaltigen Lernumgebung basierte. „Die höchste Erziehung“, bemerkte Tagore, „ist das, was uns nicht nur Informationen gibt, sondern unser Leben mit der gesamten Existenz in Einklang bringt.“
Doch schon lange vor der Moderne und den verschiedenen europäischen Kolonialherren Indiens basierte die alte indische Ausbildung, das Gurukul-System, auf dem Prinzip gemeinschaftlichen Lernens. Nicht nur zusammen zu lernen war die Devise, sondern auch erfahrbar zu machen, was es heißt, konstruktiv miteinander zu leben. Im Gurukul-System wurden die Schüler ein Teil der Familie ihres Tutors, und von jedem Mitglied der Gemeinschaft wurde erwartet, dass es sich um die anderen sorgte. Als ich gefragt wurde, was Designpädagogik in einer globalisierten Welt bedeutet, musste ich an die Ursprünge der britischen Ausbildung in Indien denken.
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Im Jahre 1835 wurde Thomas Babington Macaulay, ein hervorragender britischer Historiker, gebeten, die pädagogischen Konzepte Indiens zu überarbeiten und englische Prinzipien einzuführen. Nach Macaulays Ansicht zerfiel die Welt in zivilisierte und barbarische Staaten. Er stellte fest, dass es keine indischen Texte zu irgendeinem Thema gab, die es verdienten, mit europäischen Texten verglichen zu werden. Unterscheidet sich Macaulays Einschätzung von Literatur und Wissen aus anderen Kulturen so sehr davon, was wir heute über Gestaltung denken?
Wir können nicht behaupten, eine international exzellente Ausbildung anzubieten, wenn wir nur aus einer einzigen kulturellen Sichtweise heraus unterrichten. Wir können nicht erwarten, dass unsere Schüler unterschiedliche Standpunkte entwickeln, wenn wir dies nicht bereits in unseren Mitarbeiterteams und in unseren Themennetzwerken problematisieren. Der größere Kontext lautet: Historisch betrachtet wurden Asien, Afrika und Südamerika eher als Probleme denn als Möglichkeiten verstanden. Man hielt sie eher für das Ziel der Transformation und nicht für ihre potenziellen Quellen. Aber wir wissen, dass uns der Blick auf die Welt aus der Sicht verschiedener Kulturen auch neue, manchmal verstörende Fragen stellen lässt. Fragen, die uns zeigen, dass die Welt anders war und immer noch anders sein kann. Das ist eine moderne Haltung.
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Ich leite die Abteilung für visuelle Kommunikation am Royal College of Art (RCA), einer britischen Elite-Institution für Kunst und Design. Ich bin die erste nichtbritische Akademikerin in einer solchen Position. Das 1948 gegründete Programm hat einen Platz im Herzen der britischen Grafikdesign-Community. Die meisten Pädagogen, die in Großbritannien Design unterrichten, haben entweder hier studiert, lehrten hier oder wurden von jemandem ausgebildet, der am Royal College of Art war. Innerhalb meines Programms sind wir sehr darum bemüht, Laves und Wengers aktives, reflexives und diskursives Modell der „Communities of Practice“ anzuwenden. Demnach ist Lernen ein Prozess, um Teil einer nachhaltigen und praxisorientierten Gemeinschaft zu werden. Die besten Schulen für Gestaltung haben das bereits vorgemacht – das Bauhaus, das Black Mountain College wie auch das eingangs erwähnte Shantiniketan.
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Situative Perspektiven des Lernens lehnen traditionelle Konzepte des Wissens ab, das in den Köpfen von Individuen verortet ist. Stattdessen wird es mit der aktiven Teilnahme an einer kulturellen Praxis verglichen. Am RCA streben wir eine Lernumgebung an, in der lebendige Erfahrungen gemacht werden können, an Orten, an denen sich Menschen für reale Projekte treffen und miteinander ins Gespräch kommen. Der Aufbau eines situativen Lernens in der praxisorientierten Gemeinschaft setzt voraus, dass der Zweck der Bildung ein transformativer ist. Ziel ist es, unser Selbstverständnis und unsere Rolle im breiteren Umfeld der Kulturproduktion zu entwickeln – zu lehren und zu lernen, zu führen und zu folgen. Das ist eine moderne Haltung.
Die Autorin, Dr. Rathna Ramanathan (London), ist Designforscherin und Leiterin der School of Communication am Royal College of Art.
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Unser Ziel ist von Anfang an: Sobald sich jemand unserer praxisorientierten Gemeinschaft anschließt, ob als Tutor oder als Student, wird er Teil einer Gemeinschaft, deren Individuen über die gleichen Bedürfnisse, Wünsche und Frustrationen verfügen. Wir wollen ein modernes Verständnis des Individuums als eine Ansammlung von verschiedenen kulturellen Identifikatoren wie Herkunft, Geschlecht, Rasse, Geschichte, Nationalität, Sprache, Sexualität, religiöse Überzeugungen, Ethnizität und Ästhetik. Wir brauchen dieses Verständnis, um die Arbeit zu leiten, die unsere Schüler vollbringen. Das ist eine moderne Haltung.
Bei interkulturellen Projekten, für die ich oft mit Kollegen aus der ganzen Welt zusammenarbeite, sehe ich ein pluralistisches Potenzial der Kunst- und Designpraxis – ein Potenzial, das die Überzeugung teilt, dass verschiedene religiöse, ethnische und politische Gruppen in einer Gesellschaft gedeihen dürfen. Was uns zu Menschen macht, sind unsere Unterschiede. Für mich kommen Wahrheit oder Authentizität aus einem Denken durch die Form – welches ich „situatives Machen“ nenne. Ich glaube, wenn man darüber nachdenkt, wie man Gegenstände, Systeme, Umgebungen, Erfahrungen entwirft, denkt man auch darüber nach, wie man mit und in ihnen leben kann. Die Bedeutung unserer Arbeit liegt auch darin, wie diese gemacht wird – in Bezug auf Handwerkskonzepte, technisches Know-how und Verarbeitung, unabhängig von den Medien, mit denen wir arbeiten.
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Kunst und Design sind meiner Erfahrung nach immer Disziplinen und Berufe gewesen, die von ihrem Standort abhängig waren und sind. Während sie in der Praxis durchaus das Potenzial besitzen, eine Reihe von Netzwerken oder Dialogen oder beeindruckender Verwandlungen zu sein. Wie Gayatri Spivak es ausdrückte: „Lassen Sie uns eine bejahende Sabotage ausführen – und lassen Sie uns die Werkzeuge mit einem neuen Sinn erfüllen und benutzen!“ Spivak fährt fort: „Affirmative Sabotage ruiniert nicht nur; die Idee ist, in den Diskurs einzutreten, den du kritisierst, damit du ihn von innen heraus drehen kannst. Die einzige wirkliche und effektive Art und Weise, wie du etwas sabotieren kannst, ist, dass du sehr intim mit ihm wirst.“ Dies ist die Rolle eines Erziehers in Kunst und Design in jener komplexen Welt, in der wir leben. Das ist eine moderne Haltung.
Dieser Artikel stammt aus der ersten Ausgabe des Magazins „bauhaus now”.
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[RR 2017; Übersetzung: Sylvia Zirden]