15 Millionen Minuten Ruhm
Reality Art in der digitalen Sphäre
Inmitten einer Ära hypermedialer Vernetzung vollzieht auch die Kunst einen grundlegenden Wandel. Klassisches Schauspiel und analoge Performances werden auch in Zukunft nicht einfach verschwinden – doch die sozialen Netzwerke sind längst dabei, die Definition der Bühne zu revolutionieren. Ein Blick in die Werkstatt der Reality Art und ihren Anspruch, im Geiste des Bauhauses zu agieren.
Zur Person
Signe Pierce (New York) arbeitet in den Bereichen Performance, Fotografie, Video und digitale Kunst. Sie war mit ihren Werken im Museum of Modern Art in New York, im Museum der Schönen Künste in Leipzig und im Palais de Tokyo in Paris zu sehen.
Absatz 1 + Autor
Im 21. Jahrhundert zu leben bedeutet, Änderungen gegenüber hochanfällig und anpassungsfähig zu sein. Das Internet ist ein Ozean mit hohem Seegang, in dem endlose Wellen von Bildern und Informationen unsere Psyche überspülen, ständig und unaufhörlich abebben und fließen. Jedes Mal, wenn wir eine App öffnen oder unsere Feeds aktualisieren, flutet Wahrnehmungszwiespalt unser Bewusstsein. Wenn wir unsere Gedanken und Erfahrungen in unsere sozialen Netzwerke hochladen, werden wir zu Auffangbehältern endloser Inhalte, ergießen uns in eine kollektive Wahrnehmung. Wir überhäufen unsere Umgebung und ertränken unsere Gefühle in etwas zunehmend Irrealem, einer endlosen Woge der Virtualität.
Im Sturm dieser Störungen erleben das Dasein, die Wahrnehmung der Realität und die Erfahrung von Kunst eine extrem turbulente und grundlegende Veränderung. Trotz der allgemeinen Instabilität, die diese Phase des exponenziellen Wachstums umgibt, werden neue Ausdrucksmöglichkeiten gefunden, wenn Künstler ihre gelebten Erfahrungen zu medialer Kunst verschmelzen. Indem wir das eigene Leben als Medium begreifen und ein kuratiertes Stückchen Existenz festhalten und in die Medien exportieren, können wir Realität in Kunst verwandeln oder, wie ich es gerne nenne, in Reality Art.
Absatz 2 – 4
Reality Art ist der Begriff, mit dem ich die Idee der Verschmelzung gelebter Realität mit Abstufungen von Performance und künstlerischer Intention als Mittel des subversiven Ausdrucks und der Darstellung für ein Onlinepublikum beschreibe. Es handelt sich um eine metamodernistische Annäherung ans Leben und Handeln im Zeitalter technologischer Singularität. Worin besteht der Unterschied zwischen Handeln und Leben, wenn man ein Fotohandy in der Hand hält? Wie „real“ kann etwas sein, wenn es in den Medien existiert? Wirft die Anwesenheit von Medien unsere gelebten Szenarien in einen irrealen oder hyperrealen Raum?
Den ganzen Tag, und das jeden Tag, werden wir mit Informationen bombardiert, die sowohl wahr wie auch falsch sind, was zu diesem ewigen Zustand kognitiver Dissonanz führt, der unsere Wahrnehmung der tatsächlichen Realität umgibt. Die Unfähigkeit, echte Nachrichten von Fake News zu unterscheiden, hat eine Authentizitätskrise heraufbeschworen. Wenn wahrheitsgetreuer Journalismus direkt neben gezielter Propaganda besteht, kann man nur schwer erkennen, ob die auf unseren Bild- schirmen erscheinenden Informationen vergiftet (fake) oder rein (authentisch) sind.
Absatz 5
Diese Fragen nach dem, was es heißt, in einer zunehmend virtuellen Arena real zu sein, gehören zur ironischen Praxis, Realität als Medium zu nutzen. Jean Baudrillard, der Pate der Simulakren, machte folgende Prophezeiung: „Das Hyperreale wird zum Realen.“ Ich rufe mir diese Aussage immer wieder ins Bewusstsein, vor allem im Hinblick auf meine eigenen Versuche, in der Realität zu performen. Baudrillard argumentierte, dass ein Simulakrum nicht nur eine Kopie des Realen ist, sondern dass die Kopie vielmehr das Reale wird und einer größeren Wahrheit ähnelt. Im Fall der Reality Art sind wir „Simulakteure“. Wir machen uns selbst real, indem wir auf die „Aufnahme“- oder „Teilen“-Taste drücken und unseren Alltag, unsere Gedanken und Erfahrungen exportieren. Wenn wir uns selbst in die Medien einspeisen und hochladen, beginnen wir den Spießrutenlauf durch die öffentliche Wahrnehmung. Die übersteigerte Onlinerolle einer Person ist realer als ihr Privatleben, weil ihr Privatleben für niemand anderen als sie selbst existiert. Im digitalen Zeitalter sind die Medien das Nachrichtensystem, das um unsere tägliche Existenz weiß und seinerseits das globale kollektive Bewusstsein darüber informiert.
Absatz 6 – 8
Unsere Aufgabe als zeitgenössische Künstler und Analysten ist es, der Art, auf die wir in diesem boomenden virtuellen Raum ganz physisch existieren, entgegenzutreten und gleichzeitig neue Wege für Innovationen und Kreativität darin zu finden. Die philosophischen Grundsätze und Lehren, die vor 100 Jahren vom Bauhaus entwickelt wurden, sind für diese Betrachtungen über die räumlichen Paradoxa virtueller Normalität immer noch genauso relevant wie der Versuch seiner Meister und Studierenden, Kunst und Bildung zu verschmelzen. Einer der wichtigsten Untersuchungsgegenstände der Bauhäusler konzentrierte sich darauf, wie Menschen mit Raum interagieren und in ihm leben und wie Architektur, Planung und Kunst dazu verwendet werden könnten, in unserer physischen Lebenswelt die Erfahrung des Daseins zu verbessern. Das Bauhaus nutzte die Bühne und den Körper als Plattformen für räumliches Experimentieren, vermengte Poesie und Politik mit Bewegung, um die Wechselwirkung des Körpers mit seiner physischen Umgebung zu untersuchen.
Zurück in die Gegenwart, in der sich die Vorstellung von Raum und Bühne vom Physischen ins Digitale verwandelt und damit einen Paradigmenfluss der Wahrnehmung und der Dimensionen schafft. Eine Person, die, und sei es noch so beiläufig, in den sozialen Medien mit übersteigerten Rollen spielt, ist ein Performer, da sie eine gefilterte und selektive Version von sich selbst präsentiert. Wir nehmen uns vielleicht nicht unbedingt als rollenspielend wahr, wenn wir etwas auf Instagram posten, aber in dem Moment, in dem wir ein aktuelles Bild oder einen Status auf unseren Onlineaccounts einstellen, entsteht ein Akt der Repräsentation. Klebestellen unserer Weltlichkeit werden zu Miniproduktionen, wenn wir im Theater der sozialen Medien gesehen und vorgeführt werden.
In dieser Darstellung des täglichen Lebens sind wir die Stars unserer eigenen Realityshow. Der naive Onlinenutzer trägt computerbasierte Kostüme und Gesichtserkennungsfilter, ein schneller und einfacher Weg, sich zu verändern oder die wahre Form zu verbergen. Die Akteure der Bauhausbühne waren dafür bekannt, konstruierten Kopfschmuck und geometrische Masken zu tragen, um die Wahrnehmung der menschlichen Form auf ihre Beziehung zum Raum zu lenken. Die bei diesen Bühnenproduktionen getragenen konzeptionellen Kostüme sollten die symbolischen, ästhetischen und poetischen Ideale wiedergeben, die der Wahrnehmung des Körpers, des Gesichts und der Form anhaften. Auch wir tragen Masken, allerdings in Form der Augmentierung.
Absatz 9 – 10
Unsere modernen geometrischen Masken bestehen aus geodätischen Gesichtsscans, die mit dem Hochladen der Kameraspiegelung auf Snapchat einhergeht. Der Gesichtsfilter ist die Maske des 21. Jahrhunderts. Der durchschnittliche Nutzer sozialer Medien verwendet diese Filter, um entweder mit dem eigenen Bild zu spielen oder um es zu verbergen. Künstler waren seit jeher dafür bekannt, über neue Technologien zu sinnieren und sie zur Darstellung neuer Ideen zu ge- oder missbrauchen. Der Reality-Artist sieht diese Filter auch als Gelegenheit, die Ideen der Maskierung und Darstellung einer Onlineidentität zu zersetzen oder zu pervertieren.
Ein Teil dessen, was Kunst von Nichtkunst unterscheidet, hängt mit Intention zusammen. Die Rolle von Onlineperformern zu definieren bedeutet, dass diese den metaphorischen oder symbolischen Austausch der eigenen Persönlichkeit suchen, um eine Idee oder eine Botschaft zu vermitteln. Was ein Künstler mit einem Stück oder Werk beabsichtigt, entspricht dem, was das Stück oder Werk tatsächlich ist.
Absatz 11
Die sozialen Medien wurden mit der Absicht geschaffen, Menschen miteinander zu verbinden. Wenn wir diese Idee der künstlerischen Absicht darauf anwenden, wie wir uns online miteinander beschäftigen, verwirklichen wir einen Raum, in dem Reality Art Form annehmen kann. Talentierte Onlineperformer verstehen sich häufig als Einpersonenshow: Sie schreiben, spielen und lenken ihr Geschick auf etwas Informatives oder Tiefgreifendes. Dieses Theater der Hyperrealität ist historisch betrachtet eine einzigartige Chance. Weil wir Zugriff auf unsere eigenen Live-Übertragungssysteme und individuellen Kanäle haben, haben wir die einzigartige Möglichkeit, unsere wertvollsten Werke und Konzepte in nur einem Augenblick an wahre Massen weiterzugeben. Mit nur einem Fingertippen entfaltet sich eine zuvor unerreichbare Macht der Hyperkommunikation. Wir sind Akteure der Kommunikation, wenn wir uns diesen neuen Medien als Behälter für unsere großartigsten künstlerischen Absichten und Unternehmungen annähern.
Absatz 12 – 14
Ein reales Hindernis auf dem Weg, Reality Art als legitime Kunstform anzuerkennen, besteht darin, dass der Betrachter nicht immer weiß, ob das, was er sieht, nun Kunst ist – oder einfach ein weiteres Bild im Feed. Die Menschen sehen sich Instagram, Twitter und Facebook an, wenn sie gelangweilt nach seichter Unterhaltung suchen. Menschen verlieren sich in etwas, was ich „Scroll-Löcher“ nenne, in der Hoffnung, über Inhalte zu stolpern, die sie etwas fühlen lassen.
Dass Onlineperformer deshalb als geistlos, flach oder ruhmgetrieben charakterisiert werden, ist wohl eher dem Umstand geschuldet, dass sich Reality Art in den Augen der Geschichte noch als zukunftsfähiges Medium beweisen muss. Im Geiste des Bauhaus-Ethos möchte ich darauf hinweisen, dass Kunst auf alle Aspekte des Lebens anwendbar ist und dass sie als Werkzeug der Bildung und Information durch soziale Medien fortgesetzt werden kann. Offenheit gegenüber der Zukunft der Kunst im Sinne dessen, wohin sie sich entwickelt, wie wir sie sehen und was sie sein darf, wird nur noch aufregendere Chancen für kollektives Wachstum und progressive Aufklärung hervorbringen.
Headline
Kunst ist nicht mehr auf die Grenzen weißwandiger Galerien oder Theaterbühnen beschränkt. Sie ist überall da, wo es WLAN gibt. Wenn wir uns selbst mit angewandter künstlerischer Absicht in Medien exportieren, erlauben wir uns, Vermittler einer Veränderung zu sein, die unter dem großen Dach der peripheren Beeinflussung ein größeres globales Bewusstsein anspricht und bewegt. Die breite Bevölkerung bedarf der Kunst ebenso sehr wie der Connaisseur tradierter Bühnen. Die sozialen Medien bieten die notwendigen Werkzeuge zur Nutzung einer ohnehin nicht mehr aufzuhaltenden Veränderung – in der Kunstwelt ebenso wie im „richtigen“ Leben, was immer das auch sein mag.
Dieser Artikel stammt aus der dritten Ausgabe des Magazins „bauhaus now”.
[SP 2018, Übersetzung: NF]