Preußische Inseln im Meer des Orients
Internationale Moderne: Israel (Teil 1)
Die Weiße Stadt in Tel Aviv gilt als weltweit größtes Ensemble von Bauten der Klassischen Moderne. Viele von ihnen wurden von ehemaligen Bauhäuslern errichtet. Doch die Ursprünge der Moderne im Heiligen Land reichen weit über das Bauhaus hinaus.
headline
An einem unspektakulären Platz, in einer Schublade im Stadtarchiv von Tel Aviv, liegt seit mehr als hundert Jahren die kolorierte perspektivische Ansicht eines Lageplans. Dieses Papier sollte einst die stadtplanerische Grundlage für das jüdische Wohnviertel Achusat Bajit am Stadtrand von Jaffa sein. Es ist datiert auf den 15. April 1909 und unterzeichnet von Wilhelm Stiassny.
An diesem Umstand ist zweierlei bemerkenswert. Erstens: Gerade mal vier Tage zuvor hatten sich 60 Mitglieder jener Landwirtschaftskooperative Achusat Bajit versammelt, um mit Hilfe von 60 nummerierten Muscheln ebenso viele, vorab parzellierte Grundstücke unter sich auszulosen. Zweitens: Der Architekt Wilhelm Stiassny war schon 66 Jahre alt, als er jenen Plan unterzeichnete und hatte in Europa bereits eine beachtliche Karriere hinter sich. Im Laufe seines Berufslebens ließ er zwischen Prag und Budapest Synagogen im neoislamischen und neoromanischen Stil erbauen, aber auch Profanbauten in Wien wie Schulen, Fabriken, Friedhofshallen und mehr als einhundert Wohnhäuser.
Nun also legte er einen Bebauungsplan für ein Wohnviertel vor, das die Architekturgeschichte später als die Urzelle der Stadt Tel Aviv einordnen wird. Das aber durfte Wilhelm Stiassny nicht mehr erleben, denn er starb nur drei Monate nachdem er jenen Lageplan unterzeichnet hatte. Tel Aviv sollte von anderen Leuten erbaut werden und bedeutsame Architektur ließ dort auch noch auf sich warten, denn die nächsten 25 Jahre hatten diesbezüglich Haifa und vor allem Jerusalem die Nase vorn.
Herzels Visionen
Die antisemitische Atmosphäre im Europa des 19. Jahrhunderts hatte den bis dahin mäßig erfolgreichen jüdischen Schriftsteller Theodor Herzl veranlasst, seine Gedanken in einem Buch niederzuschreiben. Es hieß „Der Judenstaat – Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“, erschien im Jahr 1896 und sollte zum Manifest der zionistischen Bewegung werden. Kurz darauf bereiste Herzl Palästina; dieser Trip beflügelte seine Fantasie. In der Romanutopie „Altneuland“ entwickelt er die Vorstellung von einer „jüdischen Stadt der Zukunft“ mit weitläufigen Platzanlagen und eingehegten Palmengärten im Zentrum – gesäumt von arkadengeschwungenen, palastartigen Gebäuden mit den Büros internationaler Gesellschaften und Banken.
Von allen Seiten münden breite Avenuen auf den Platz, die dem Autoverkehr offen stehen. Infrastrukturell befindet sich diese Zukunftskommune auf höchstem technischem Niveau, mit elektrischer Straßenbeleuchtung, Telefonnetz und einer Schwebebahn. Die Romanfigur des Architekten Steineck zeichnet aber nicht etwa für eine neue in den Wüstensand gesetzte Stadt verantwortlich. Vielmehr realisiert er Herzls Vision an bereits existierenden Ansiedlungen, wie der Mittelmeergemeinde Haifa und dem altehrwürdigen Jerusalem. Und genau dorthin zog es dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts europäische Baumeister, die altersmäßig Wilhelm Stiassnys Enkel hätten sein können.
Stadt der Zukunft
Insbesondere nach der Zusicherung des britischen Außenministers Lord Balfour im November 1917, „die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ wohlwollend unterstützen zu wollen, begannen die Bautätigkeiten. In Haifa entstand das moderne Viertel Hadar HaKarmel, das heute bevorzugte Wohngegend israelischer Hipster ist. Zur selben Zeit entwirft der aus Deutschland eingewanderte Architekt Richard Kauffmann am Reißbrett das Viertel Rechavia in Jerusalem. Als sich die nächste Architektengeneration in Person der jüdischen Arzttochter Lotte Cohn aus Berlin bei ihm bewirbt, bittet er sie in einem Brief, moderne deutsche Bauordnungen für „Städte und Gartenstädte“ mitzubringen. Er nennt explizit die von Essen, Hamburg, Köln und die vom „Zionistenfreund“ Bruno Taut errichtete Hellerau.
In Jerusalem entsteht ein symmetrisch angeordnetes Stadtviertel mit gitterförmigen Straßen ohne klare Abgrenzung hin zum gemischt bevölkerten Viertel Talbieh und dem überwiegend arabischen Katamon. Die zärtliche Charakterisierung vom „Grunewald im Orient“ lässt die Gartenstadt hervortreten. Der israelische Stadtplaner David Kroyanker wird Rechavia später eine „preußische Insel im Meer des Orients“ nennen. Bis heute leben hier unweit vom Zionsplatz und dem Jüdischen Markt vorwiegend Jeckes, wie in Israel die deutschen Juden genannt werden.
Mit europäischen Standards war es gelungen, jüdische Menschen zur Einreise in die neuen Wohnviertel Palästinas zu animieren. Noch sind die Nazis in Deutschland nicht an der Macht. Ab 1933 kommen dann viele Juden nicht wegen ihrer zionistischen Gesinnung, sondern als Verfolgte ins Land. Darunter namhafte Architekten aus Berlin und vom Bauhaus in Weimar. Dies wird zur Geburtsstunde des modernen und urbanen Tel Aviv.
[GHH 2017]