„Jeanneret“ made in India
Internationale Moderne: Indien
Die als Jeanneret-Möbel bezeichneten Stücke aus der nordindischen Stadt Chandigarh knüpfen an Le Corbusier und die europäische Moderne des 20. Jahrhunderts an. Doch ihre ausdrucksstarke Strukturlogik leitet sich fast vollständig von der lokalen, traditionellen Art und Weise der manuellen Holzbearbeitung ab. Das zeigt: Die Moderne war ein multilaterales, internationales Projekt.
Zur Person
Der Autor, Dr. Vikrāmaditya Prakāsh (Seattle), ist Direktor des Chandigarh Urban Labs und arbeitet über Moderne, Postkolonialismus und Urban Theory.
Amie Siegel (New York) ist eine US-amerikanische Künstlerin. Der „Stuhlaffäre” um Chandigarh widmete sie ihre Videoarbeit „Provenance“, der die Bilder entnommen sind.
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Erst kurz zuvor von der Kolonialherrschaft befreit, suchte Indien unter Indiens erstem Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru (1889-1964) den Widerspruch zwischen dem modernistischen und dem kolonialen Projekt auszunutzen, um für sich eine neue Identität als politische Avantgarde der Welt zu erfinden. Indien sollte moderner werden als der moderne Westen, mit einer Staatsverfassung und einer politischen Agenda, die fortschrittlicher und zukunftsweisender waren als die der westlichen Staaten, auf denen sie basierten. Als Werkzeug und Symbol seiner Ambitionen war die Stadt Chandigarh für diese Pläne zentral.
Was ist, 50 Jahre später, da sowohl das Projekt Nehrus als auch das modernistische Erbe vor der Auslöschung stehen, der richtige erkenntnismäßige Rahmen für die Bewahrung von Chandigarhs moderner Architektur? Die Frage lautet: Wie soll die Herkunft der Moderne als ein internationales politisches Projekt analysiert werden? Der New York Times vom 19. März 2008 zufolge ist Chandigarh eine Stadt, „die auf ihren Schätzen saß, ohne sie zu sehen“. Mit diesen „Schätzen“ sind Tausende von Stühlen und andere Möbelstücke aus Holz gemeint, die vom Chandigarh Capital Project Team in den 1950erund 1960er-Jahren entworfen wurden, um die Gebäude zu möblieren, die zu dieser Zeit gebaut wurden. Diese einst von lokalen Möbelhändlern und Handwerkern manuell gefertigten Möbel sind, wie die Architektur auch, ein halbes Jahrhundert später schadhaft und morsch. Seit einiger Zeit werden sie durch neue, aus Herstellerkatalogen zusammengekaufte Möbel ersetzt. Diese sind nicht nur sehr teuer, sondern besitzen vor dem Hintergrund der modernistischen Tradition Chandigarhs keinen besonderen gestalterischen Wert.
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Die Kritik der New York Times richtet sich jedoch nicht gegen den schlechten Stil der neuen Möbel, sondern gegen den mangelnden Schutz der alten. Der antiquierten bürokratischen Logik der indischen Regierung zufolge müssen ausgemusterte Möbel in staatseigenen Lagerhallen aufbewahrt werden, wo sie wie Schrott aufeinandergestapelt und nach einiger Zeit meistbietend versteigert werden. Meist kaufen Recyclingunternehmen diese alten Möbel und versuchen, ihre Käufe mit einem kleinen Gewinn en gros weiterzuveräußern, entweder als Möbel an arme Menschen oder, weitaus häufiger, als Brennholz.
Dieser Grundsatz des Recyclings der abgenutzten Möbel ist ehrenwert, aber darauf zielt die Kritik der New York Times gar nicht ab. Die Ursache für deren Kritik ist eine Handvoll französischer und amerikanischer Kunstsammler. Sie tauchten bei den staatlichen Auktionen vor Ort auf, überboten die Recyclingunternehmen spielend und kauften die Möbel für wenige Cents pro Stück. Nach einer Komplettüberarbeitung wurden die Teile auf Auktionen in Europa für jeweils über 20.000 Dollar weiterverkauft. An dem Kauf der Möbel durch ausländische Händler war nichts Illegales. Doch erst mit einiger Verspätung beklagen die Denkmalschützer in Chandigarh den Verlust wesentlicher Elemente, die bei der ursprünglichen Gestaltung der Stadt eine Rolle gespielt haben.
Glaubt man dem Medienhype, so wurde dies von der indischen Regierung verschuldet, die buchstäblich auf diesen Schätzen saß, ohne sie zu sehen. Der Artikel beklagt, dass der Wert dieser Möbel nach wie vor nicht anerkannt wird, und schließt sich dem lautstarken Ruf nach einem besseren Schutz der „Schätze“ von Chandigarh an, die dem indischen Nationalstaat von ihren europäischen Designern anvertraut worden waren. Immerhin hat inzwischen die Verwaltung von Chandigarh infolge dieser Stuhlaffäre den Verkauf aller Möbel verboten. Daher wachsen die Schrottberge immer weiter und werden inzwischen sogar von Sicherheitsfirmen bewacht.
Im Jahr 2009 hat das Chandigarh Urban Lab die öffentlich zugänglichen modernen Möbel inventarisiert. Unser Fokus lag dabei nicht auf einer Ermittlung des finanziellen „Wertes“ der Möbel insgesamt oder ihrer Gesamtzahl, sondern auf ihrer Gestaltungslogik. Das heißt auf dem Bemühen, das Wesen ihrer Form, die Besonderheit des „Made in India“ und ihre gerettete „Geschichte“ zu dokumentieren und im besten Fall besser zu verstehen. Sehr schnell fanden wir heraus, dass der Urheber der Möbel selbstverständlich nicht Pierre Jeanneret – der Cousin von Le Corbusier – allein war, obwohl diese Werke als „Jeanneret-Möbel“ bekannt geworden sind. Die als Jeanneret-Möbel bezeichneten Stücke knüpfen direkt an Le Corbusier und die europäische Moderne des 20. Jahrhunderts an, was für ihren Ursprung von entscheidender Bedeutung ist. Und so stellten wir fest, dass zumindest A. R. Prabhawalkar, U. E. Chowdhury, B. P. Mathur und Aditya Prakash viele der Möbel entworfen haben.
Die Fragen nach der Gestaltungslogik der Chandigarh-Möbel, nach ihrer Herkunft und ihren Einflüssen sind weiter offen. Im Zentrum stehen anscheinend Ergonomie und Material, das heißt, sie sind darauf ausgelegt, einen idealen Körper in einem bestimmten Zustand aufzunehmen, und sind den Haupteigenschaften des Holzmaterials entsprechend gebaut. Der modernistische Hang zu einer allgemeingültigen Ergonomie ist bekannt. Doch die Chandigarh-Möbel gehen auch auf lokale Ursprünge zurück. Im Gespräch mit einigen der Architekten, die die Möbel entwickelt, und mit einigen der Schreinereien, die sie hergestellt haben, erfuhren wir, dass die Möbel so entworfen wurden, dass sie die heimischen Tischler- und Holzbearbeitungsverfahren integrierten. Die Möbel wurden in Handarbeit hergestellt, weil diese Art des Bauens billiger war. Bei den Chandigarh-Möbeln gibt es aber durchaus bedeutende Innovationen. Die aber bestehen darin, sich auf lokale Tischlereiverfahren und Materialstärken des Holzes zu verlassen sowie auf die Hände der zahlreichen lokalen Holzarbeiter zu vertrauen, die die Möbel bauten.
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Als mehr und mehr Möbel entworfen wurden, begannen sie mit der Zeit immer „indischer“ auszusehen. Jeanneret lebte gegen Ende seines Lebens bekanntlich zwischen Möbeln, die mit einer ganzen Reihe lokaler Materialien und Tischlerarbeiten spielten und zugleich billiger produziert worden waren, selbst als die günstigsten Möbel zuvor. Eine allein auf die Herkunft der Form konzentrierte Perspektive verfolgt ausschließlich den gemeinsamen Ursprung der Möbel zurück in den Westen, von Prabhawalkar/Prakash/Mathur hin zu den Designbüros Le Corbusiers, Jeannerets und Perriands. Ihr stellen wir hingegen eine Perspektive gegenüber, die die materiellen Produktionsbedingungen in den Mittelpunkt rückt und auf die Hände der namenlosen subalternen Handwerker verweist. Dies ist weder eine Zwickmühle noch ein schwer lösbarer Widerspruch. Es ist eine Frage der Politik, der Politik der Moderne und der zeitgenössischen Beurteilung ihrer Erzeugnisse.
Wenn wir den Modernismus der Möbel vorrangig in ihren modernistisch wirkenden Formen sehen, dann ist ihr Ursprung singulär und eurozentrisch und ihr Handel in der sogenannten (Anm. d. Red.) Dritten Welt ein weiteres Beispiel für die neokoloniale Ausbeutung der globalen hegemonialen Bestrebungen der Moderne. Dies ist der normative postmoderne Blick auf die architektonische Moderne, ihre Ambitionen und ihre grundlegende Identität.
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Doch es gibt auch eine andere Lesart, die die Ästhetik der Moderne als grundlegend mit den tatsächlichen Produktionsbedingungen verknüpft bestimmt, die ihre Ästhetik nicht einfach als Hinweis auf zeitlose Entwurfe versteht, sondern auf ein ästhetisches Projekt, das wesentlich an seinen Produktionsort gebunden ist. Das ist es, was gelegentlich als die globale, kosmopolitische oder translokale Perspektive charakterisiert wird. Die Moderne an sich kann damit auch als globales Netzwerk translokaler Produktion bezeichnet werden.
Dieser Artikel stammt aus der ersten Ausgabe des Magazins „bauhaus now”.
[VP 2017; Übersetzung: Sylvia Zirden]