Walter Gropius’ Bauhaus-Manifest
Veröffentlichungsdatum: 4.2019
Im November 1918 kehrte der Architekt Walter Gropius aus dem Ersten Weltkrieg nach Berlin zurück.[1] Er engagierte sich in der politisch unruhigen Stadt, in der sich linke und rechte Kräfte radikalisierten. Zunächst war er Mitbegründer des „Arbeitsrats für Kunst“, einer Gruppierung junger Künstler, die darüber diskutierten, wie ihre Kunst an der Gestaltung der Zukunft mitwirken könnte.[2]
Etwa gleichzeitig gelang es Gropius, durch geschickte Verhandlungen zum April 1919 als Direktor einer neu gegründeten Kunstschule in Weimar eingesetzt zu werden. Er gab ihr den Namen „bauhaus“, die offizielle Bezeichnung lautete „Staatliches Bauhaus in Weimar“.[3] Was war das Neue an dieser Schule? Sie brachte zwei bis dahin getrennte Sphären zusammen, was sich durch die Verbindung der tradierten Akademie und der Kunstgewerbeschule auch institutionell vollzog. Diese beiden Schultypen, die sich zuvor der Ausbildung in freier oder angewandter Kunst widmeten, wurden im Bauhaus unter dem gemeinsamen Dach der Architektur zusammengeführt. Gropius hielt nur eine solche Ausbildungseinrichtung für zeitgemäß.
Im April 1919 formulierte er sein „Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar“.[4] Heute wird es häufig nur „Manifest“ genannt, und tatsächlich enthält das sechsseitige Faltblatt neben dem eigentlichen „Programm“ eine Grundsatzerklärung, die Gropius an anderer Stelle als „Manifest“ bezeichnete.[5] Das Programm wurde damals als Beilage ungefragt oder auf Wunsch verschickt, um auf das neu gegründete Staatliche Bauhaus in Weimar aufmerksam zu machen und Schüler anzuwerben. Es beginnt mit dem Manifest. Der Text hat keine Überschrift und setzt mit einer emphatischen Erklärung ein: „Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau!“ Er fordert die Rückkehr zum Handwerk und sieht „den neuen Bau der Zukunft“ als „Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens“. Das Handwerk wird zur Erlösung stilisiert. Künstler und Handwerker sollen zusammenarbeiten, um als künftige Arbeitsgemeinschaft Bauwerke gemeinsam zu gestalten. Mit dem Faltblatt wurde gleichzeitig der von Gropius kreierte Name „bauhaus“ zum ersten Mal der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Diese geschickt gewählte Bezeichnung wurde schnell zum Synonym des Neuen und Gemeinschaftlichen. Die Wortmarke „bauhaus“ war das erste von zahlreichen Alleinstellungsmerkmalen, die die Schule bald auszeichneten.
Der Aufbau der Lehre wird im Programm auf drei Textseiten erläutert: Das Herzstück der Schule sind die Werkstätten, zudem ist eine mehrjährige Ausbildung vorgesehen. Die Lehrer sind keine Professoren, sondern „Meister“, die Schüler heißen „Lehrlinge“ oder „Gesellen“. Damit sind zentrale Bezeichnungen aus der zünftigen Handwerkerausbildung in eine Hochschule übernommen. Der Maler Lyonel Feininger, den Gropius aus dem Arbeitsrat für Kunst kannte und den er als ersten neuen Lehrer – Meister – an seine Kunstschule berief, schuf das Titelblatt des Manifests. Der Holzschnitt zeigt eine gotische Kathedrale, die vielfach als programmatisch interpretiert worden ist. Die drei Sterne über ihrer Turmspitze gelten als Symbole für die Künste Skulptur, Architektur und Malerei, die am „großen Bau“ zusammenarbeiten. Die Grafik verlieh der Schulgründung eine visuelle Identität, die Feiningers expressionistische Stilsprache übermittelte – 1919 die modernste Ausdrucksform. Wenig später sprach Gropius von der „Kathedrale der Zukunft“.[6]
In vielen Zügen hat das Programm ein Janusgesicht. Text und Bild weisen gleichzeitig in die Vergangenheit und in die Zukunft. Die Vergangenheit – das ist die gotische Kathedrale auf dem Titel. Sie steht für die Bauhütte des Mittelalters.[7] Hier, so glaubte man, waren Handwerker und Künstler vereint, um gemeinsam ein Werk zu schaffen. Diese Ideen waren in der Romantik entstanden, um 1919 verschmolzen nun Gotik und Romantik als Teil eines Modernisierungskonzeptes, das in die Zukunft gerichtet war. Der Zukunftsgedanke ist im Manifest die wichtigste Botschaft. Text und Bild sind Symbole des Anfangs einer neuen Kultur.
Mit seinen idealistisch formulierten Zielen sowie seinen Rückbezügen auf Gotik und Romantik ist das Manifest sowohl tief in deutschen Kulturtraditionen als auch in der Zeitsituation nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg verankert. Gropius’ Reaktion auf die offene Gegenwart war gleichzeitig eine Absage an jede Form nationaler Orientierung. Er sollte in den nächsten Jahren eine internationale Öffnung und Ausrichtung der Schule vollziehen. Dies betraf beispielsweise die Wahl der Meister. Lyonel Feininger war Deutsch-Amerikaner, Johannes Itten und Paul Klee kamen aus der Schweiz, Wassily Kandinsky aus Russland und László Moholy-Nagy aus Ungarn. Von den Schülern hatte ein Drittel ausländische Wurzeln.
Indien
Es war diese Offenheit, die 1922 zu der Bereitschaft führte, 250 Werke der Bauhaus-Meister und von zwei Schülerinnen ins indische Kalkutta auszuleihen.[8] Vermittlerin war die Wiener Kunsthistorikerin Stella Kramrisch, die damals über London nach Kalkutta gekommen war und an der 1919 gegründeten Kunstschule Kala Bhavan lehrte. Sie hatte Meister Itten angeschrieben, den sie möglicherweise aus Wien kannte. Dort hatte Itten 1917 auf Einladung des Wiener Kunsthistorikers Josef Strzygowski einen Vortrag „Über Komposition“ am Kunsthistorischen Seminar gehalten, an dem auch Kramrisch Studentin gewesen war.[9] Als die Ausstellung der Bauhaus-Werke in Kalkutta im Dezember 1922 stattfand, war Indien schon vielfach Thema am Bauhaus gewesen: „Bauen! Gestalten! Gotik – Indien!“ – das waren Stichworte, die Gropius sich für seine erste Ansprache an die Studierenden notierte.[10]
Für Gropius bedeuteten die indischen Tempel Gemeinschaftswerke von Künstlern und Handwerkern. Itten suchte ein anderes Indien: Er wollte seiner Kunst einen höheren Lebenssinn und Spiritualität verleihen und konzentrierte sich 1921 auf Rabindranath Tagore, der 1913 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte und dessen 60. Geburtstag im Januar 1921 in Weimar begangen worden war. Beide Kulturen hatten einen selektiven Blick aufeinander. Die indische Kunstschule wollte die Potenziale abstrakter Kunst verstehen. Das besondere Interesse galt den Bildern der Maler Paul Klee, Wassily Kandinsky und Johannes Itten. Das imaginierte Indien und das reale Indien trafen seit 1919 immer wieder aufeinander. Heute gilt die Ausstellung von 1922 als Kreuzungspunkt zweier reformorientierter Kunstschulen im internationalen Transfer der Moderne.
Japan
Die Verbindungen zu Japan sind auf den ersten Blick weniger ausgeprägt. Am Weimarer Bauhaus selbst lässt sich keine starke Japan-Resonanz erkennen. Die oft genannten japanischen Übernahmen durch die Architektur Frank Lloyd Wrights und der De-Stijl-Architekten gewannen keinen semantischen Eigenwert.[11] Im japanischen Diskurs der Moderne fiel der Blick wohl erst 1924 auf das Bauhaus.[12] Auch hier spielte Itten eine wesentliche Rolle. Der japanische Architekt Nakata Teinosuke veröffentlichte 1924 einen Bericht über seinen Besuch am Bauhaus. Damit begann die Bauhaus-Rezeption in Japan. Wenige Jahre später, 1931, gründete der japanische Architekt Renshichirō Kawakita eine Kunstschule im Geist des Bauhaus und stellte den ersten japanischen Bauhaus-Studenten Takehiko Mizutani ein.[13] Sie übernahmen unter anderem Praktiken aus den Vorkursen von Johannes Itten und Josef Albers. Mizutani war von 1927 bis 1929 Schüler des Bauhaus gewesen. Damals fertigte sein Mitstudent Edmund Collein eine Collage, die Mizutani zeigt, der vor seinem Körper eine große runde Glasscheibe hält, deren Muster ist ebenso rätselhaft wie der Student selbst, den hier der „fremde Blick“ trifft.
Kurz danach kam das Ehepaar Iwao und Michiko Yamawaki an das Dessauer Bauhaus. Yamawaki eignete sich die Technik an und schuf 1932 die Collage Der Schlag gegen das Bauhaus (1932) die heute als Illustration und Anklage gegen die politisch erzwungene Schließung des Bauhaus Dessau gilt. Verfremdung und Übernahme zeigen sich hier im Mikroraum des Bauhaus als fluide Prozesse. Auf ihren Reisen durch Deutschland und Europa nahm das Ehepaar zahlreiche Fotografien auf, die wir heute als Zeugnisse japanischer Aneignung der Moderne lesen können.[14] Sie wollten ihre japanische Tradition mit der Bauhaus-Moderne verschmelzen und gelten heute als deren wichtigste Botschafter in Japan.[15] Auch sie lehrten später an der japanischen Institution Kawakitas.
Zuerst veröffentlicht in: Marion von Osten und Grant Watson (Hg.): bauhaus imaginista, Scheidegger & Spiess, Zürich 2019, S. 26–28.
Footnotes
- ^ Für Hinweise und Anregungen danke ich Ute Ackermann und Anke Blümm.
- ^ Vgl. Arbeitsrat für Kunst Berlin 1918– 1921 (Ausst.-Kat. Akademie der Künste, Berlin), Berlin: Akademie der Künste, 1980, S. 11–22.
- ^ Zur Gründungsgeschichte: Volker Wahl, „Wie Walter Gropius nach Weimar kam. Zur Gründungsgeschichte des Staatlichen Bauhauses in Weimar 1919“, in: Weimar-Jena: Die Große Stadt. Das kulturhistorische Archiv, Jg. 1 (2008), H. 3, S. 167–211.
- ^ Zur Entstehung und Geschichte des Manifests: Karen Koehler, „The Bauhaus Manifesto Postwar to Postwar: From the Street to the Radio to the Memoir“, in: Jeffrey Saletnik und Robin Schuldenfrei (Hg.), Bauhaus Construct: Fashioning Identity, Discourse and Modernism, London: Routledge, 2009, S. 13–36; auch Charles Haxthausen, „Walter Gropius and Lyonel Feininger: Bauhaus Manifesto. 1919“, in: Barry Bergdoll und Leah Dickerman, Bauhaus 1919–1933. Workshops for Modernity, New York: Museum of Modern Art, 2009, S. 64–67; ebenso Magdalena Bushart, „Am Anfang ein Missverständnis. Feiningers Kathedrale und das Bauhaus-Manifest“, in: Bauhaus-Archiv, Museum für Gestaltung, Berlin, Stiftung Bauhaus Dessau, Klassik Stiftung Weimar (Hg.), Modell Bauhaus, Ostfildern: Hatje Cantz, 2009, S. 29–32.
- ^ Brief Walter Gropius an Richard Engelmann vom 16. April 1919, zit. nach Wahl 2008 (wie Anm. 3), Anm. 139.
- ^ Walter Gropius, „Ansprache an die Studierenden des Staatlichen Bauhauses, gehalten aus Anlaß der Jahresausstellung von Schülerarbeiten im Juli 1919“, in: Hans Maria Wingler, Das Bauhaus 1919–1933. Weimar, Dessau, Berlin, Bramsche: Gebr. Rasch & Co., und Köln: M. Dumont Schauberg, 3. Auflage, 1975, S. 45–46, hier S. 46.
- ^ Annemarie Jaeggi, „Ein geheimnisvolles Mysterium: Bauhütten-Romantik und Freimaurerei am frühen Bauhaus“, in: Christoph Wagner (Hg.), Das Bauhaus und die Esoterik: Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Paul Klee (Ausst.-Kat. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm u. a.), Bielefeld, Leipzig: Kerber, 2005, S. 37–45.
- ^ Regina Bittner und Kathrin Rhomberg (Hg.), Das Bauhaus in Kalkutta. Eine Begegnung kosmopolitischer Avantgarden, Ostfildern: Hatje Cantz, 2013.
- ^ Johannes Itten, Die Tagebücher. Stuttgart 1913–1916. Wien 1916–1919, hg. und kommentiert von Eva Badura-Triska, Wien: Löcker, 1990, Kommentar S. 97. Eine der Versionen von Ittens Vortrag in: Rainer Wick (Hg.), Johannes Itten. Bildanalysen, Ravensburg: Otto Maier, 1988, S. 91–101. Itten nennt darin auch die indischen Veden.
- ^ Boris Friedwald, „Das Bauhaus und Indien – Ein Blick zurück in die Zukunft. ‚Bauen! Gestalten! Gotik – Indien!‘“, in: Regina Bittner und Kathrin Rhomberg (Hg.), Das Bauhaus in Kalkutta. Eine Begegnung kosmopolitischer Avantgarden, Ostfildern: Hatje Cantz, 2013, S. 119–133, hier S. 119, Anm. 2.
- ^ Robin Rehm, Das Bauhausgebäude in Dessau. Die ästhetischen Kategorien Zweck, Form, Inhalt, Berlin: Gebr. Mann, 2005, S. 127–134.
- ^ Katerina Rüedi Ray, Bauhaus Dreamhouse. Modernity and globalization, London: Routledge, 2010, S. 146–149.
- ^ Helena Čapková, „Transnational Networkers – Iwao and Michiko Yamawaki and the Formation of Japanese Modernist Design“, in: Journal of Design History, 27 (2014), Nr. 4, S. 370–385.
- ^ Vgl. Karl Lagerfeld (Hg.), Iwao Yamawaki, Göttingen: Steidl, 1999.
- ^ Vgl. Čapková 2014 (wie Anm. 13).