Little or no interest in progress?
Internationale Moderne: Großbritannien
Welchen Einfluss hatten die bahnbrechenden Ideen des Bauhauses auf britische Architekten und Gestalter – und welche Rolle spielte die Moderne im traditionsbewussten Empire? Anlässlich der Parlamentswahl am 8. Juni 2017 lenkten wir unseren Blick nach Großbritannien.
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Die Industrielle Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts führte nicht nur in ihrem Ursprungsland Großbritannien zu einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformation. Die daraus resultierenden Industriegesellschaften veränderten auch im restlichen Europa und in den USA nachhaltig die Lebensverhältnisse der Bevölkerung. Schon im Laufe des 19. Jahrhunderts regte sich in Großbritannien nicht nur politischer, sondern auch gestalterischer Widerstand gegen die Auswirkungen der rasant anwachsenden Massenproduktion.
Um 1870 herum initiierte eine Gruppe junger Künstler aus dem Wirkungskreis des Dichters und Gestalters William Morris (1834–1896) und des Kunsthistorikers und Philosophen John Ruskin (1819–1900) die Gestaltungsidee des Arts and Crafts Movement. Diese Bewegung forderte eine Rückbesinnung auf das Handwerk und rückte die Freude an der Arbeit des Künstlers und der natürlichen Schönheit des Materials in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. In den folgenden fünfzig Jahren etablierte sich das Arts and Crafts Movement nicht nur in Großbritannien und den USA, sondern strahlte von dort aus auch auf Japan und viele Länder des europäischen Kontinents aus.
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Das Konzept, handwerklich hergestellte Produkte über industrielle Massenanfertigungen zu stellen, galt als britische Antwort auf die Veränderungen der Industrialisierung. Viele Jahre vor dem Bauhaus betonte das Arts and Crafts Movement bereits die Einfachheit des Designs und die Bedeutung der handwerklichen Arbeit als ideale Einheit von künstlerischer Gestaltung und materieller Produktion.
Ein wichtiger Wendepunkt in der Entwicklung der britischen Architekturgeschichte stellt die einsetzende Finanzkrise ab Herbst 1931 sowie die damit einhergehende Währungskrise dar. Zahlreiche etablierte Mitglieder des Royal Institute of British Architects (RIBA) wandten sich angesichts der Not Tausender Bürger den drängenden Fragen der Stadtplanung und -sanierung und dem Thema Wohnungsbau zu. Das Konzept des Bauhauses, das dafür bereits konstruktive Lösungswege erarbeitet hatte, fand langsam auch bei Architekten aus dem Vereinigten Königreich Anklang. [1]
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Als Walter Gropius im Mai 1934 auf Vermittlung Moholy-Nagys und auf Einladung des RIBA anlässlich der Eröffnung einer Architektur-Ausstellung nach London reiste und dort erstmals im englischsprachigen Raum referierte, waren er und die Ideen des Bauhauses in englischen Fachkreisen schon keine Unbekannten mehr. [2] Nach der feierlichen Eröffnung der Veranstaltung durch den ehemaligen Präsidenten des RIBA, Sir Raymond Unwin, hielt Gropius einen Vortrag zu Peter Behrens – dem „führenden Vertreter des Industriedesigns“ –, der Minimalwohnung und der „Ersetzung der Slums durch neue Siedlungen“ [3]. Ergänzend wurden rund 170 Fotografien und Zeichnungen von Gropius zu Ausstellungs-, Fabrik- und Theaterbauten und Wohnhäusern ausgestellt, die von den Architekten des RIBA angeregt diskutiert werden. [4]
Nur wenige Tage später wurden Gropius’ Thesen im Journal des RIBA veröffentlicht. In derselben Ausgabe erschien direkt im Anschluss an seinen Vortrag eine Buchvorstellung mit dem Titel: „Wer befreit uns von den Römern und den Griechen?“ Jene Rezension beschäftigte sich thematisch eher mit Bildender Kunst als mit Architektur; manch Teilnehmer war allerdings hoch erfreut über diese Zusammenstellung und hielt sie eher für eine Aufforderung denn für reine Zufälligkeit. [5]
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Zur besseren Veranschaulichung der Ideen des Bauhauses zeigte das Journal auf seinem Frontispiz die von Gropius entworfenen Wohnhäuser in Berlin-Siemensstadt. Es bezeichnete den Inhalt des Vortrags als „glänzend“ [6] und appellierte an seine Mitglieder, sich den neuen Ideen mit „Aufnahmebereitschaft und Wissbegier“ [7] anzunehmen: „Selbst wenn es weder wünschenswert noch zu erwarten ist, dass nun ganz England in wilden Enthusiasmus ausbräche angesichts einer Art, zu bauen und zu gestalten, die den Wunschvorstellungen eines großen Teils der Architekten und der Öffentlichkeit in England eindeutig als fremd zuwiderläuft [...]“. [8]
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Aufgrund der Zusicherung von Maxwell Fry (1899–1987) und Jack Pritchard (1899–1992), gemeinsame Bauprojekte zu realisieren, und der anhaltenden Schwierigkeiten, im nationalsozialistischen Deutschland Aufträge zu bekommen, verließ Gropius wenig später seine Heimat Richtung London. Doch rasch wurde klar, dass nur ein kleiner Kreis von Architekten, Bauherren und Fachpublizisten modernen Entwurfsmethoden, Konstruktionsweisen und Formensprachen aufgeschlossen gegenüberstand. [9] Mangelnde Englischkenntnisse und komplizierte Umrechnungen von deutschen in englische Standards stellen weitere Herausforderungen im beruflichen Alltag dar. Gropius, der sich in der britischen Gesellschaft grundsätzlich wohlfühlte, beklagte zudem das mangelnde Interesse junger Menschen an Neuerungen und zukunftsweisenden Veränderungen. [10]
In der Tat orientierte sich die englische Baukunst der dreißiger Jahre noch weitgehend an Bauformen, die schon um die Jahrhundertwende entwickelt worden waren. Es ist bezeichnend, dass britische Architekten weder 1927 bei dem Gründungstreffen des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) noch bei anderen bedeutenden Architektur-Ereignissen wie der Stuttgarter Weißenhof-Ausstellung im gleichen Jahr vertreten waren. [11]
Im Jahr 1932 formulierte das amerikanische Architekturhistoriker- und Architekten-Duo Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson in der New Yorker Überblick-Schau „Modern Architecture“ folgende Einschätzung: „In [...] England really modern architecture has only began to appear“. [12] Und 1937 stellte der aus Russland immigriere Architekt Berthold Lubetkin, der mit seinem Büro Tecton zum einem der wichtigsten Protagonisten der britischen Architekturavantgarde werden sollte, fest: „The whole architectural scene is fundamentally different from that of other countries […] , there is little or no interest in progress.“ [13]
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Diese kurzen Anmerkungen verdeutlichen, wie schwierig es vielen der immigrierten Architekten fiel, sich in die britische Architekturlandschaft zu integrieren. Häufig wurden sie mit antimodernistischen Haltungen konfrontiert oder als Bedrohung der einheimischen Architekten empfunden. Selbst der Gründer des inzwischen weltweit renommierten Bauhauses hatte anfänglich mit Vorbehalten zu kämpfen. Nur sein exzellenter Ruf und gute Beziehungen sorgen schließlich dafür, dass er innerhalb von zweieinhalb Jahren zwölf Projekte entwerfen konnte, von denen vier auch tatsächlich realisiert wurden, darunter das Wohnhaus Levy in London-Chelsea (1936) und das Impington College in Cambridge, das zwischen 1935 und 1939 entstand.
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Beide Projekte spiegeln wichtige Ideen Gropius’ wider, darunter Anklänge an die „Weiße Moderne“ im Haus Levy in Form eines Flachdaches, verputzter Fassade und geschwungener Balkonterrasse oder der Betonung des Horizontalen im Impington College, deren lichtdurchflutete Klassenzimmer und die große Eingangshalle als Kommunikationsmittelpunkt deutlich auf Gropius Einfluss verweisen. [14]
Trotz der realisierten Bauten wurde Gropius in Großbritannien nicht heimisch. 1936 schrieb er an einen Kollegen: „Dies ist kein Land, nur ein Aufenthaltsplatz.“ [15] Folgerichtig verließ er England schon ein Jahr später. Gropius, dem es in erster Linie darum ging, die Ideen und pädagogischen Konzepte des Bauhauses fortzusetzen, zog in die USA. Hier, so schien es, fand er endlich die geeigneten Arbeits- und Lebensbedingungen, nach Deutschland auch die Welt von Griechen und Römern zu befreien.
[AW/NF 2017]
- [1+4+5+10] Vgl. Reginald R. Isaacs, Walter Gropius, Der Mensch und sein Werk, Bd. 2, Teil 2, Die Jahre des Übergangs, S. 673-825.
- [2] Vgl. H. G. Scheffauer, The Work of Walter Gropius, The Architectural Review, Bd.66, 1924, S. 50-54.
- [3] Reginald R. Isaacs, Walter Gropius, Der Mensch und sein Werk, Bd. 2, Teil 2, Die Jahre des Übergangs, S. 676.
- [6+7] Reginald R. Isaacs, Walter Gropius, Der Mensch und sein Werk, Bd. 2, Teil 2, Die Jahre des Übergangs, S. 679.
- [8] The Royal Institute of British Architects, Journal, Ser. 3, Bd. 97, 1955, S. 155.
- [9] Vgl. Andreas Schätzke, Deutsche Architekten in Großbritannien: Planen und Bauen im Exil 1933-1945, Edition Axel Menges GmbH, 2013.
- [11] Vgl. Dennis Sharp, Gropius und Korn. Zwei erfolgreiche Architekten im Exil. In: Kunst im Exil in Großbritannien 1986, S. 203-208, S. 203.
- [12+13] Berthold Lubetkin, Modern Architecture in England. In: American Architect and Architecture 2/1937. S. 29-42, S. 29.
- [14] Burcu Dogramaci, Scheitern und Bestehen in der Fremde. Deutschsprachige Künstler im britischen Exil nach 1933. In: Der Künstler in der Fremde. Migration-Reise-Exil. Uwe Fleckner, Maike Steinkamp und Hendrik Ziegler (Hg.), S. 265-281.
- [15] Brief von Walter Gropius an Max Burchard, 21. Juni 1936, Berlin, Bauhaus-Archiv, Nachlass Walter Gropius,GN 8/81.