Harmonisierungslehre
1919–1924
Gertrud Grunow hatte Anfang des 20. Jahrhunderts eine eigene Musikpädagogik entwickelt. Am Bauhaus lehrte sie die Studierenden und Meister eine gleichberechtigte, harmonische Nutzung aller Sinne.
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Der Bauhaus-Meister Johannes Itten lud die Musikpädagogin Grunow im Herbst 1919 zu einem Vortrag ans Bauhaus ein und empfahl sie für eine Anstellung als Hilfslehrerin. Ihr freier Unterricht hieß zunächst „Harmonielehre”, erst der Bauhaus-Meister Oskar Schlemmer sollte ihn später „Harmonisierungslehre” nennen. Sowohl Studenten als auch Meister besuchten ihren Unterricht, der in den Weimarer Anfangsjahren so beliebt war, dass Grunow als einzige Frau in einer offiziellen Übersicht über den Lehrkörper für die Bauhaus-Ausstellung 1923 in der Rubrik „Lehrende Meister für die Formlehre“ aufgeführt wurde. Faktisch war sie gegenüber den männlichen Kollegen jedoch benachteiligt, da sie bis zum Sommer 1923 als Hilfskraft auf Honorarbasis arbeitete, später mit einem Vertrag als außerordentliche Lehrkraft.
In ihrem Unterricht lehrte Grunow die gleichberechtigte, harmonische Nutzung aller Sinne. Sie vertrat die Theorie, dass die Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen nach im persönlichen Farb-, Klang- und Formempfinden verwurzelten Gesetzen entstehen. Sensibilisierung aller Sinnesorgane und Mentaltraining bis hin zur individuellen psychologischen Beratung waren Bestandteil der Kurse. Mit ihrem zwölfteiligen Farbkreis arbeitete sie in Analogie zur Zwölftonmusik Arnold Schönbergs und untersuchte außerdem die Zusammenhänge von Formen und Farben parallel zu den vergleichbaren Kursen von Johannes Itten (Vorkurs), Wassily Kandinsky und Paul Klee.
Gertrud Grunow zählte wie Johannes Itten und Lothar Schreyer zu den „Esoterikern“ des Bauhauses. Grunows Kurs war der Lehre übergeordnet und nahm mit seinem ganzheitlichen Ansatz und seinen rhythmisch-musikalischen Übungen großen Einfluss auf die Ausrichtung des frühen Bauhauses. Grunow fertigte zahlreiche Beurteilungen über Studierende an, die Empfehlungen für die Zuordnung zu bestimmten Werkstätten gaben. Mit Walter Gropius' Hinwendung zur Technik und dem Weggang Ittens verlor sie an Einfluss und verließ das Bauhaus 1924.