Friedl Dicker
1919–1923 Studierende am Bauhaus Weimar
- Geboren 30.7.1898 Wien, Österreich-Ungarn | Österreich
- Verstorben 6.10.1944 KZ Auschwitz, Provinz Niederschlesien (Deutsches Reich) | Polen
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Geburtsname
Friederike Dicker
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Name nach Heirat
Friedl Brandeis
Friedl Dicker-Brandeis
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Lebenspartnerin von
Franz Singer
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Ehe mit
Pavel Brandeis (1.9.1905–1971)
(∞1936)
- Tätigkeiten Grafikerin, Malerin, Pädagogin, Textilkünstlerin
Friedl Dicker wurde am 30. Juli 1898 in Wien geboren. Im Alter von gerade einmal vier Jahren starb ihre Mutter, Karolina Fanta, und das Mädchen blieb mit ihrem Vater Simon Dicker allein. Im Papierwarengeschäft ihres Vaters verbrachte Friedl Dicker die meiste Zeit; dort fand sie alles was sie brauchte, um ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen und aus Ton zu formen, mit Stiften zu malen, mit Papier zu gestalten.
Mit Beginn des Ersten Weltkrieges hatte Friedl Dicker ihren Vater davon überzeugt, sie an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt anzumelden, wo bei sie dem Meisterfotografen Johannes Beckmann studierte. Nach Abschluss dieses Studiums ging Dicker an die Wiener Kunstgewerbeschule. Nebenher verdiente sie ihr Geld am Theater, wo sie Requisiten zusammenstellte, Kostüme machte, selbst auftrat und Theaterstücke schrieb. 1915 begann Dicker in der Textilabteilung der Kunstgewerbeschule zu studieren und besuchte nebenher Kurse bei Franz Cinek.
1916 eröffnete der spätere Bauhausmeister Johannes Itten in Wien seine eigene Kunstschule. Bis 1919 studierte Friedl Dicker hier gemeinsam mit Anni Wottitz – einer Freundin, die sie 1917 in Wien kennenlernte und mit der sie Buchbindeaufträge ausführte. 1918 schloss Dicker an Ittens Schule Bekanntschaft mit Franz Singer, der zu diesem Zeitpunkt Architektur studierte. Als Johannes Itten 1919 seine Schule schloss und als Meister ans Bauhaus in Weimar zog, gingen auch Dicker, Wottitz und Singer sowie eine Vielzahl seiner „Jünger“ mit ihm.
Am Bauhaus fand Friedl Dicker Gleichgesinnte, die ihre kindliche Neugierde und ihre Fragen nach der Funktion der Dinge, teilten. Für das alltägliche Leben schuf Dicker mit ihren Freundinnen Anni Wottitz und Margit Téry-Adler Buchbinderarbeiten in der privaten Werkstatt von Otto Dorfner. Für einen Jahrmarkt in Weimar fertigte sie Marionetten, die von Kindern vor Staunen umringt, aber unverkäuflich waren. Mit diesem Jahrmarkt steigt die Nachfrage nach Textilien aus dem Bauhaus rapide an; Walter Gropius organisierte die Lieferung von Maschinen und Stoffen – die professionalisierte Produktion unter Leitung von Georg Muche konnte beginnen. Mit dabei war Friedl Dicker. Nebenher erlernte sie in der Werkstatt von Lyonel Feininger die Technik der Lithografie. Als Paul Klee 1921 ans Bauhaus berufen wurde – er war Dickers Lieblingsmaler – besuchte sie fast täglich seine Vorlesungen über das Wesen der Kunst und die kindliche Fantasie oder beobachtete ihn beim Malen. Die Bekanntschaft mit Klee und dessen Kunst ebnete der jungen Studentin den Weg in die Motivik und Pädagogik der Kinderwelt. Von Schlemmers Figurinen fasziniert, zeichnete Dicker die, die ihr am besten gefielen. Mit ihnen wuchs Dickers Wunsch ans Theater zu gehen.
1921 arbeiteten Friedl Dicker und Franz Singer (ihr langjähriger Partner) schließlich bei der Bauhaus-Theatertruppe von Lothar Schreyer. Noch im selben Jahr erhielten sie eine Einladung des Regisseurs Berthold Viertel, um an dem Theaterstück „Erwachen“ und später an „Die Haidebraut“ mitzuwirken. In der Werkstatt von Oskar Schlemmer fertigte Dicker hierfür nötige Skizzen an. Noch im Jahr 1921 heiratete Franz Singer die Sängerin Emmy Heim. Mit ihr bekam er einen Sohn, blieb aber weiterhin mit Dicker liiert. Trotzdem sie mehrmals von Singer schwanger wurde, wollte dieser kein gemeinsames Kind mit ihr; sie trieb mehrmals auf sein Drängen hin ab. Ihre privaten Wege trennten sich nach dem Tod von Singers Sohn; beruflich aber blieben Dicker und Singer noch über viele Jahre hinweg eng miteinander verbunden.
1923 gründeten die beiden die „Werkstätten Bildender Kunst“. Es entstanden Spielzeug, Schmuck, Textil- und Buchbinderarbeiten sowie Grafiken und Theaterausstattungen. Beauftragt von Berthold Viertels Theater reisten Dicker und Singer zwischen Berlin, Wien, Leipzig, Dresden und Köln hin und her. 1925 zog Dicker in ihre Heimatstadt Wien zurück. Hier eröffnete sie mit ihrer Freundin Martha Döberl ein Buchbinderei- und Textilatelier. Als Singer ihr nachzog, entstand das Architekturbüro Singer-Dicker. Mit ihren Arbeiten erlangten sie zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem 1927 in Berlin bei der Ausstellung „Kunstschau“ und 1929 in Wien bei der Ausstellung „Modernes Design“. Ihr innovatives, praktisches Denken ließ sie leicht zusammenschiebbare und stapelbare Stühle sowie Klappsofas und bewegliche Lampen, die stehen, hängen oder liegen konnten, erfinden. Dabei stand stets die Skizze am Anfang, aus der sich kleine Modelle in Puppenstubengröße entwickelten und schließlich in ganzer Größe in Möbelwerkstätten gebaut wurden. Bald schon gehörte eine Einrichtung oder zumindest ein Einrichtungsgegenstand des Architekturbüros zum Guten Ton des Wiener Bürgertums. 1930 bekamen sie den Auftrag, den Montessori-Kindergarten im Wiener Goethehof auszustatten. Jedes Zimmer hatte mehrere Funktionen, die Dicker und Singer miteinander vereinen sollten. So konstruierten sie einen großen, runden zusammenklappbaren Tisch mit Stapelstühlen, die an die Wand gestellt Platz machten für Matten zum Ausruhen. Der Kindergarten, wie auch andere Bauten des Ateliers Singer-Dicker, sind heute nicht mehr erhalten.
Ab 1931 hielt Friedl Dicker Kurse für Kindergärtnerinnen ab. Es war ein neuer Lebensabschnitt, in dem sie sich der Kunstpädagogik zuwandte, wofür ihr der Unterricht bei Itten zugute kam. Es ging hierbei nicht nur darum Kinder zu unterrichten, sondern primär um die Sensibilisierung von Erwachsenen, die erlernen sollten, die Persönlichkeiten der Kinder und deren künstlerische Fähigkeiten zu erkennen. Dickers Ziel war es, mit den Kindern gemeinsam ihre individuellen Erfahrungen und Gefühle zu verstehen und auf Papier zu bringen. Ihre Übungen verfolgten keinen Zweck; sie wollte die Kinder lediglich animieren, sich voll auf einen Schaffensprozess zu konzentrieren.
Während dieser Zeit war die Künstlerin aktives Mitglied der Kommunistischen Partei. Wie ihr Freund John Heartfield fertigte sie Fotocollagen für Agitationsplakate an, und sie nahm dabei kein Blatt vor den Mund. 1933, mit der Machtergreifung Hitlers, ging die Kommunistische Partei in den Untergrund. Dicker bewahrte persönliche Dokumente von Freunden auf, was ihr eine Durchsuchung des Ateliers, bei der man falsche Pässe fand und darauf folgend eine Haftstrafe bescherte. Auf die Aussage von Franz Singer hin, wurde Dicker aus der Haft entlassen. Sie flüchtete umgehend nach Prag. Die Schwester ihrer Mutter, Adela Brandeis (geborene Fanta), lebte mit ihren drei Söhnen in Prag. Dicker verliebte sich in den Jüngsten, Pavel; 1936 heirateten sie und Friedl Dicker nannte sich von nun an Friedl Brandeis, signierte ihre Bilder nicht mehr mit „FD“ sondern mit „FB“. Beruflich arbeitete sie mit Greta Bauer an der Renovierung von Wohnungen, mit Franz Singers Schwester Frieda Stork entwarf sie Textilmuster. Über eine kommunistische Untergrundgruppe bestehend aus deutschen und österreichischen Emigranten, die sich in der Buchhandlung „Schwarze Rose“ regelmäßig traf, lernte Dicker 1936 Hilde Kothny, eine neue, enge Freundin kennen.
Als Hitlerdeutschland 1938 die tschechische Grenze übertrat, versuchten Freunde Brandeis zur Emigration zu bewegen. Franz Singer war nach London geflüchtet und bot ihr an nachzukommen. Von Anni Wottitz' Mann Hans Moller erhielt sie ein Visum für Palästina. Dicker wollte ihren Mann nicht verlassen; er konnte zu diesem Zeitpunkt kein Visum mehr bekommen. Im Sommer 1938 zogen sie in das Provinzstädtchen Hronov, wo Pavel Brandeis eine Stelle als Hauptbuchhalter der ortsansässigen Textilfabrik erhielt. Im August 1940 stellte der Kunsthändler Paul Weingraf, der Brandeis noch als Friedl Dicker aus Wien kannte, ihre Bilder in der Londoner Galerie Arcadia aus. In den Sommermonaten 1940 und 1941 mieteten Dicker und Brandeis ein Zimmer auf einem Bauernhof nahe Hronov. Brandeis hinterließ ihr gesamtes Archiv auf diesem Hof. In der Zeit der Massendeportationen von Juden (ab 1941) zerstörte der Bauer des Hofes alles bis auf zwei Gemälde. Unter den Deportierten befanden sich auch Brandeis' Schwiegermutter sowie einer ihrer Schwäger und dessen Frau; sie starben in Konzentrationslagern. Friedl Brandeis hörte auf zu malen.
Am 16. Dezember 1942 machten sich auch Pavel und sie auf den Weg zum Transport. Am 17. Dezember 1942 kam das Ehepaar Brandeis in Theresienstadt an. Er wurde als gelernter Zimmermann direkt in die Werkstätten geschickt; sie verwies man in die Technische Abteilung zu anderen Künstlerinnen, mit denen Dicker die Erfolge der Stadt im Bild festhalten sollte. Hitler wollte Theresienstadt in den Medien wie ein Geschenk an die Juden erscheinen lassen, wo sie sich Kaffee trinkend vergnügten. Doch war dies lediglich Teil der perfiden Nazipropaganda.
Die vielen Intellektuellen und Künstler unter den Inhaftierten fanden Mittel und Wege, Kinderheime zu installieren, in denen einige Kinder Bildung und Hilfe erfuhren. In einem der Mädchenheime wurde Friedl Brandeis Betreuerin. Sie gab ihnen Malstunden und hob einen Großteil der Zeichnungen, die hier entstanden, auf, um sie nach Kriegsende durchzuarbeiten. Ihr Plan war, basierend auf ihrer Erfahrung mit den Kindern in Theresienstadt, eine eigene Studie über Kunsttherapie für Kinder zu publizieren. Bereits im Juli 1943 hielt sie ihren Vortrag „Kinderzeichnen“ noch in Theresienstadt bei einem Erzieherseminar. Das vollständige Manuskript wurde erst 1971 wieder entdeckt. Im Sommer 1943 organisierte die Künstlerin eine Ausstellung der Kinderzeichnungen im Keller des Heims.Im selben Jahr arbeitete sie als Kostüm- und Bühnenbildnerin mit an der Aufführung des Theaterstücks „Käferlein“ der Schauspielerin Nava Schean mit den Mädchen aus ihrem Kinderheim. Theater wurde ein Teil des Unterrichts; die Kinder malten das Bühnenbild selbst und verkleideten sich.
Es ist Friedl Brandeis und anderen Künstlern in Theresienstadt zu verdanken, dass ein Teil der Kinder ein Stück weit Normalität und Kreativität vermittelt bekamen. Neben ihrer Arbeit als Betreuerin und Pavels Arbeit als Zimmermann begannen sie mit der Umgestaltung der Kinderzimmer. Mit einfachen Mitteln – wie dem Färben der Bettwäsche, individuellen Ornamenten und Mottos am Bett – brachten sie den Kindern ein wenig Heimeligkeit in die überladenen, kahlen Räume. Ihre Passion – die funktionale Gestaltung von Räumen, die Malerei, das Theater – ließen Friedl Brandeis selbst an diesem trostlosen Ort nicht los.
Im Herbst 1944 wurden 5.000 Männer – darunter Pavel Brandeis – „zum Bau eines neuen Lagers“ abtransportiert. Auch dieses Mal bestand Friedl Brandeis darauf, bei ihrem Mann zu bleiben; sie ließ sich als Freiwillige auf die Liste des nächsten Transports setzen. Am 8. Oktober erreichte ihr Zug Auschwitz. Kurz vor ihrer Abreise packte Brandeis einen Koffer mit den Kinderzeichnungen; Willy Groag versteckte ihn auf dem Dachboden und brachte ihn im August 1945 nach Prag zur Jüdischen Gemeinde.
Pavel Brandeis überlebte das Konzentrationslager. Friedl Brandeis starb einen Tag nach ihrer Ankunft am 9. Oktober 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau. [AG 2015]
- Literatur:
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· Liz Elsby: Coping through Art - Friedl Dicker-Brandeis and the children of Theresienstadt, The International School for Holocaust Studies. (6.6.2016).
· Georg Heuberger (1991): Vom Bauhaus nach Terezin. Friedl Dicker-Brandeis und die Kinderzeichnungen aus dem Ghetto-Lager Theresienstadt, Frankfurt/Main.
· Elena Makarova: Friedls Leben. Friedl Dicker-Brandeis. Briefe und Leben, Projekt der Gemeinnützigen Organisation Janusz Korczak House in Jerusalem. (6.6.2016).
· Elena Makarova (2000): Friedl Dicker-Brandeis. Ein Leben für Kunst und Lehre, Wien.
· Susan Goldman Rubin (2000): Fireflies in the Dark. The Story of Friedl Dicker-Brandeis and the Children of Terezin, New York.
· Theresienstadt Lexikon: Friedl Dicker-Brandeis. (6.6.2016).
Friedl Dicker
Zeitraum: 10.1919–3.1924
Schwerpunkt: Grundlehre/Vorlehre, Druckerei, Buchbinderei