Zwei Zimmer, Küche, Avantgarde
Das Neue Frankfurt
Das Bauhaus in Hessen. Gab es in der Weimarer Republik etwas, das dieses Etikett verdient? Die Antwort könnte „ja, aber…“ lauten. Das gilt besonders für Frankfurt am Main, das parallel zum Bauhaus die Aufmerksamkeit auf sich zog. Mit dem „Neuen Frankfurt“ gab es neben Dessau ab 1925 ein zweites Zentrum des Aufbruchs – kein Planet des Bauhauses, sondern ein eigener Stern mit eigener Energie.
Absatz 1 + Autorin
Das Projekt des Neuen Frankfurt versetzte eine gesamte Großstadt in Aufbruchsstimmung auf dem Weg in die Moderne. Gesteuert von einer Stadtverwaltung, die unter ihrem Oberbürgermeister Ludwig Landmann in allen Bereichen geschlossen an der Verwandlung Frankfurts in ein „Groß-Frankfurt“ arbeitete: Stadtraumgestaltung, Grünpolitik, Wohnungsbau, Kulturprogramm, wirtschaftlicher Aufbau.
Dorothea Deschermeier (Heidelberg) ist freie Architekturhistorikerin und Kuratorin. Gemeinsam mit Wolfgang Voigt hat sie die Ausstellung "Neuer Mensch, neue Wohnung. Die Bauten des Neuen Frankfurt 1925-1933" für das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt/Main entwickelt.
Absatz 2
Frankfurt wurde zu einer Hochburg der Avantgarde. Das Entscheidende war: Theorie wurde sofort in die Praxis umgesetzt. Innerhalb weniger Jahre wurden circa 12.000 Wohnungen, zahlreiche öffentliche Bauten wie Schulen, Schwimmbäder, Markthallen sowie Industriebauten errichtet. Das Herz der Modernisierung war das Planungsdezernat unter der Leitung von Ernst May, der ein Team aus für die Moderne aufgeschlossenen jungen Architekten zusammenbrachte. Um nur einige Protagonisten zu nennen: Ferdinand Kramer arbeitete an der Typisierung der Entwürfe, Margarete Schütte-Lihotzky aus Wien entwarf die wegweisende Frankfurter Küche, Mart Stam wurde eingeladen, die Hellerhofsiedlung zu planen, Adolf Meyer verließ das Büro des Bauhausdirektors in Dessau, um in Frankfurt Industriebauten zu errichten und die städtischen Bauberatung zu leiten. Auch Walter Gropius hatte einen Gastauftritt und plante 1929 auf Einladung Mays die Siedlung Lindenbaum.
Absatz 3 – 4
Propagiert wurden die Errungenschaften des Neuen Frankfurt in der gleichnamigen Monatsschrift, deren moderne Grafik Hans Leistikow, später auch Willi Baumeister gestalteten. Sie hatte internationale Reichweite, setzte die Bildunterschriften dreisprachig und zählte im Jahr 1930 135 Abonnenten in Japan. Kaum vorstellbar heute, aber vieles deutet darauf hin, dass das Neue Frankfurt seinerzeit punktuell eine größere Ausstrahlung hatte als das Bauhaus.
Wichtigste und dringlichste Aufgabe des Neuen Frankfurt war die Linderung der dramatischen Wohnungsnot, von der alle Großstädte gebeutelt waren. Mit dem Bau der neuen Siedlungen bot sich die Gelegenheit, das Ideal einer neuen Wohnkultur auf breiter Basis zu etablieren. Seit 1900 existierte in den Zirkeln der Lebensreform, befeuert von den Schriften Friedrich Nietzsches, das Fantasma des „Neuen Menschen“. Das Neue Frankfurt befreiten ihn aus dem elitären Elfenbeinturm und machte ihn massentauglich.
Absatz 5 – 6
Die Architekten im Frankfurter Hochbauamt verstanden sich als legitime Erzieher zum Neuen Menschen. Die Bewohner der Neubausiedlungen sollten durch Grundriss, Ausstattung (Systemmöbel, Frankfurter Küche) und Technisierung (Elektrifizierung, Radio) gewandelt werden. Ideal und Wirklichkeit klafften jedoch manchmal weit auseinander. Kurt Schwitters bemerkte resigniert, aber unbeirrbar: „Es kann ja auch werden wie in den Frankfurter Siedlungen, wo die Leute mit ihren grünen Plüschsofas ankommen. […] Aber hoffen wir, dass das Haus sie adelt“ (1927).
Eine Ausstellung am Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main mit dem Titel „Neuer Mensch, neue Wohnung. Die Bauten des Neuen Frankfurt 1925–1933“ (bis 18. August) präsentiert nicht nur eine Auswahl der bedeutendsten Bauten und Siedlungen; es wird auch der unübersehbaren Diskrepanz zwischen Anspruch und Lebensrealität nachgespürt.
Absatz 7
In der Architekturgeschichte hat das Neue Frankfurt seinen festen Platz, jedoch kaum beim breiten Publikum, wozu verschiedene Faktoren beigetragen haben. Zum einem ist es der Lebensweg Ernst Mays, der 1930 in die Sowjetunion ging, um dort Siedlungen zu bauen. Als sein Auftrag 1933 endete, konnte er in das inzwischen von den Nationalsozialisten regierte Deutschland nicht zurückzukehren. Er fand ein Exil in Ostafrika, wo er sich eine Existenz als Kaffeefarmer und Architekt aufbaute. Während des Zweiten Weltkriegs war er einige Jahre lang in einem britischen Internierungslager eingeschlossen und somit komplett isoliert. In diesen Jahren bereitete Gropius von den USA aus dem Narrativ „seines“ Bauhaus erfolgreich den Weg. Darüber hinaus passten die weitgehend anonymisierten Entwürfe der Architekten des Neuen Frankfurt, die innerhalb eines effizienten, bürokratischen Organigramms arbeiteten, nicht in das Schema einer ganz auf die Leistung von Einzelpersonen, auf die „Masters“, ausgerichteten Architekturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Absatz 8
Geht man heute durch Frankfurt, stößt man an vielen Stellen auf Bauten aus der kurzen Periode des Neuen Frankfurt. Die Siedlungen sind bewohnt, die städtischen Gebäude in Nutzung, kaum etwas wurde im Lauf der Jahre abgerissen. Veränderungen erfuhren die Siedlungen vor allem durch ihre Bewohner, die sich den Wohnraum durch Um- und Anbauten aneigneten. Teile der Siedlungen stehen zwar unter Denkmalschutz, aber eine angemessene Pflege hat lange gefehlt. In den offiziellen Dokumenten zum Welterbe-Status, den 2008 die Berliner Siedlungen der Moderne erhielten, liest man deswegen die für Frankfurt wenig rühmliche Feststellung, dass die gemessen an ihrer historischen Bedeutung und Wirkung gleichrangigen Siedlungen das Gleiche verdient hätten; allerding würde ihr Zustand das nicht zulassen. Mittlerweile besinnt sich die Stadt Frankfurt auf ihr modernes Erbe. Es ist geplant, gezielt ausgewählte Straßenzüge in einen denkmalpflegerisch angemessenen Zustand zu versetzen, um sie so wieder als Einheit erfahrbar zu machen.
Absatz 9
Der nicht nur in Frankfurt angespannte Wohnungsmarkt und explodierende Bodenpreise erinnern an die dramatische Situation der Wohnungsnot in der Weimarer Republik nach dem 1. Weltkrieg. Frankfurt reagierte damals mit einem Bauprogramm für Sozialwohnungen und holte 1929 den CIAM-Kongress zu dem Thema „Die Wohnung für das Existenzminimum“ nach Frankfurt. Das historische Neue Frankfurt dient heute als Impulsgeber: Im vergangenen Jahr lobten die Stadt Frankfurt, das Deutsche Architekturmuseum (DAM) und die ABG Frankfurt Holding den Architekturwettbewerb „Wohnen für Alle. Das Neue Frankfurt 2018“ für innovativen und bezahlbaren Wohnungsbau aus, dessen Beiträge bis zum 23. Juni im DAM zu sehen waren. Die vier Preisträger des Verfahrens – Duplex Architekten aus Zürich, schneider + schumacher Architekten aus Wien/Frankfurt am Main, NL Architects aus Amsterdam/Studyo Architects aus Köln und Lacaton & Vassal aus Paris werden ihre Entwürfe sukzessive auf einem städtischen Grundstück im Norden Frankfurts realisieren können. Die Errungenschaften, die Effizienz und die Innovationskraft des historischen Neuen Frankfurt auf diese Art zu würdigen, hätte Ernst May sicherlich gefallen.
Neuer Mensch, Neue Wohnung
Die Bauten des Neuen Frankfurt 1925-1933
23.03.2019 – 18.08.2019
Frankfurt am Main, Deutsches Architekturmuseum (DAM)
Schaumainkai 43
60596 Frankfurt am Main, Deutschland
[DD 2019]