„Kurze Sätze, die sich weigern, alt zu werden“
Interview mit Ada Karmi-Melamede
Ada Karmi-Melamede ist eine der Stimmen, die in der Audio-App des kürzlich eröffneten Max-Liebling-Hauses in Tel Aviv zu hören sind. Ihr Vater Dov Karmi war der Architekt des Gebäudes. Eine inspirierende Unterhaltung über die Freiheit des Geistes, der Architektur und der Rituale einer kreativen Familie.
Ihr Vater Dov Karmi hat das Liebling-Haus entworfen, wie auch viele andere, die gleichzeitig Wohn- und öffentliche Gebäude sind, beispielsweise das El-Al-Gebäude und das Carmeri-Theater. Er war der erste Architekt, der 1957 den Israel Prize in Architecture erhielt, seine Arbeiten gehören zum modernen israelischen Erbe. Wie hat das alles angefangen?
Mein Vater gehörte zu der Generation von Einwanderern, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus Odessa nach Palästina kamen. Sie hatten jede Menge Hoffnung und Verzweiflung im Gepäck, entstanden aus den politischen und ideologischen Turbulenzen in Osteuropa. Er kam 1918 in Palästina an, ging in Haifa zur Schule, studierte Malerei in Jerusalem und Architektur an der Universität von Gent.
Wie kam es dazu, dass er sich an den einflussreichen Bewegungen seiner Zeit beteiligt hat?
Damals war Belgien – nicht Deutschland, Holland oder Frankreich – das Zentrum des Jugendstils und kaum durch die Moderne beeinflusst. Die Studierenden waren sich der Dogmen und Manifeste der Moderne bewusst, aber gleichermaßen frei in der überaus flexiblen Interpretation und Anwendung des Stilkonzepts.
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Und Ihr Vater hat diese Ideen mit nach Hause gebracht.
Diese Freiheit des Geistes war eine Charaktereigenschaft meines Vaters. Sie half ihm auf der Suche nach einem sozial orientierten, funktionalen Ausdruck der Architektur, der durch die Nutzung einheimischer Materialien und Technologien realisiert werden konnte – eine moderne Sprache mit Bezug zu Topographie, Klima, Licht, Wasser und Vegetation.
Diese moderne Einstellung fand ihren Ausdruck im Liebling-Haus.
Ja. Das Liebling-Haus ist ein Wohngebäude in Tel Aviv, errichtet von 1936 bis 1937. Es hat eine klare platonische Form mit einem Flachdach, zur Straße ausgerichtet. Die Fassade ist gestuft. Ein Spalt führt über die gesamte Breite und schafft einen tiefen Schatten, der an ein Fensterband ohne Glas erinnert.
Hinter dieser Fassade ist die innenliegende Front des Gebäudes, beschattet und geschützt, von Türen und Fenstern gekennzeichnet. So entsteht eine Art öffentlicher Raum im vorderen Teil des Gebäudes und ein privater im hinteren Part. Ein Zwischenraum trennt beide Sphären. Er fungiert als Balkon und wurde als Erweiterung des Wohnzimmers genutzt.
Die Asymmetrie der Fassade führt den Blick zum seitlichen Eingang. Hier ist der Bereich, der vom Gehweg zur Eingangstür führt, mit einer Holzpergola überdacht. Es wird eine Raumsequenz geschaffen, die in einem wunderschönen vertikalen Foyer mit indirektem Licht endet, von wo aus man zu den Wohneinheiten gelangt.
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Was würden Sie als für die Arbeit Ihres Vaters typisch bezeichnen?
Horizontale Schichtung war ein Thema, das in vielen Projekten meines Vaters immer wieder auftauchte. Es war ein einzigartiger Aspekt, der für die Moderne untypisch war. Die meisten Gebäude meines Vaters sind wie kurze Sätze, die ganz klar bleiben und sich weigern, alt zu werden. Seine Gebäude ließen sich sanft zum Boden hinab, korrespondierten mit dem Standort und hatten aufgrund ihrer Menschlichkeit sowohl lokalen als auch universalen Charakter.
Sie selbst gehören heute zu den wichtigsten zeitgenössischen Architekt*innen in Israel. Auf welche Weise hat Ihr Vater Sie beeinflusst?
Mein Vater ist trotz der Tatsache, dass ich nie mit ihm zusammengearbeitet habe, in meiner Arbeit präsent. Er starb, als er 57 war und ich noch Architektur studierte. Seine Gebäude fühlen sich hinsichtlich ihrer räumlichen und materiellen Ausdrucksform, ihrer logischen Struktur und ihrer Taktilität an, als gehörten sie hierher. Diese Kombination war von Beginn an die Leitlinie für meine Arbeit.
Ich habe von meinem Vater gelernt, dass das Material der Architektur der Raum ist, ihre Logik Struktur, ihre Taktilität in der klassischen Tradition liegt, und ihre Stimmung aus dem Licht kommt. Demzufolge verwende ich häufig indirektes Licht, was die Textur und die Farben lokaler Materialien weicher erscheinen lässt.
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Gab es in Ihrer Familie bestimmte kreative Rituale?
Alle in der Familie haben gezeichnet. Und wenn wir auf Reisen waren, habe ich meinen Vater oft abseits sitzen und zeichnen sehen. Er zeichnete Menschen, Landschaften und Gebäude in feiner Tinte. Seine Freihandzeichnungen und seine Architektur weisen große Ähnlichkeiten auf, weil sie gleichermaßen abgestuft sind.
Meine Eltern sprachen vier Sprachen. Sie waren von hier und gehörten hier hin. Dennoch hatten sie einen europäischen Hintergrund, der Farbe in ihren Alltag brachte und für Augenmaß sorgte. Wir wohnten in Tel Aviv in modernen Häusern, das letzte von ihnen wurde von meinem Vater entworfen. Meine Mutter war stark an Innenarchitektur interessiert und war als Partnerin wichtig, wenn es um Geschmacksfragen ging.
Unsere Wohnung war sehr schön eingerichtet, mit handwerklichen Details und handgefertigten Möbeln. Ich habe von meinem Vater gelernt, wie wichtig Detaillierung ist, und ich glaube, sie ist ein fester Bestandteil der Architektur, der die Beschaffenheit von Materialien und den Planungsprozess zum Vorschein bringt.
Sie gingen 1967 in die USA und kamen erst 1986 nach Israel zurück. War dies auch eine Flucht von ihrer Familie? Wollten Sie aus den Fußstapfen Ihres Vaters treten?
Nein. Ich ging 1967 wegen der Karriere meines Mannes in die USA. Ich arbeitete für Aldo Giuorgla und unterrichtete mit ihm 15 Jahre lang an der Architekturschule der Columbia University. Und was soll ich sagen? Meine Studenten und Studentinnen waren meine besten Lehrer.
Verborgen
Vielen Dank für das Gespräch!
zusatzinfo
Das Projekt "The Matter of Data" untersucht die Bau- und Materialgeschichte des Liebling Haus und bereitete die Ergebnisse in einem ansprechenden Medienkonzept auf. Auch sie sprachen mit Ada Karmi-Melamede, die Aufnahmen sind in der Ausstellung noch bis 1.4.2020 in Tel Aviv zu sehen.
[KK 2020]