Die Weißen Pavillons von Beirut
Internationale Moderne: Libanon
Flüchtlinge als Belastung für ihre Gastländer? Ein Blick auf das Beirut der Zwischenkriegszeit zeigt, dass Migration im Gegenteil ein Anstoß sein kann zu gesellschaftlicher Blüte und Innovation – für alle Beteiligten.
Zur Person
Dr. Joseph Rustom (Beirut) ist Architekt und Forscher bei Houshamadyan, einem Projekt zur Rekonstruktion des osmanisch-armenischen Stadt- und Landlebens.
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Infolge des Ersten Weltkrieges erreichten den Libanon und Syrien große Wellen armenischer Flüchtlinge, die sich in Städten wie Beirut, Aleppo oder Alexandretta niederließen. 1923 konnten diese Flüchtlinge die Staatsbürgerschaft ihrer Gastländer erwerben. Im Libanon war dies der Beginn einer erfolgreichen Integration der armenischen Gemeinschaft in das eher komplexe ethno-religiöse Mosaik, das bis heute nicht nur das religiöse und soziale, sondern auch das politische und wirtschaftliche Leben des Landes bestimmt.
Die Ankunft der Armenier fiel mit der Einführung des modernen Städtebaus in Beirut zusammen. Damals erlebte die Stadt, die gerade erst Hauptstadt geworden war, einen gigantischen Bauboom, der es mit sich brachte, dass neben neuen architektonischen Ideen auch bislang unbekannte Materialien und Bautechniken erprobt wurden. Jenseits der Architektur lieferte die Moderne Beirut neue Konzepte, mit dem schrecklichen Erbe der Weltkriege und jenen Krisen umzugehen, mit denen die Region konfrontiert war.
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Das moderne europäische Konzept des Humanitarismus wurde geboren und sollte zuerst im Nahen Osten ausprobiert werden. Es beruhte auf säkularen zwischenstaatlichen Institutionen, die die missionarische Wohlfahrt, die der Westen in der Region vorher praktiziert hatte, begleiten, wenn nicht ersetzen sollten. Moderne Architektur war eines ihrer zentralen Mittel. Welche Rolle spielten diese beiden Facetten der Moderne bei der Integration der armenischen Gemeinschaft in Beirut und in welchem Umfang haben sie zu ihrem Erfolg beigetragen?
Von Flüchtlingen zu Bürgern
Als die armenischen Flüchtlinge nach dem Völkermord an ihrem Volk in Beirut eintrafen, erholte sich die Stadt immer noch von den Wunden des Krieges. Ein Drittel der Bevölkerung war vor Hunger gestorben und ganze Dörfer waren von ihren Bewohnern entleert. 1922 lebten 35.000 Flüchtlinge in Beirut, davon 8.000 in Lagern in der Nähe des Lazaretts der Stadt. 1926 erreichte die Zahl der Flüchtlinge 12.000. Allmählich wurden die zuvor errichteten Zelte durch Hütten aus Holzverschlägen und Blech ersetzt. Französische Militärkasernen, darunter die berühmten „baraques adrien“, wurden als Orte des Gebets, als Schulen und Apotheken recycelt. Schnell erblühte der Handel in den Quartieren der Lager, die nun die Namen der verlorenen Heimatstädte (Adana, Sis, Hadjin, Marash usw.) trugen. Darüber hinaus boten der Wiederaufbau von Beirut nach dem Krieg sowie die Förderung der neuen Hauptstadt den Flüchtlingen ausgezeichnete Arbeitsmöglichkeiten, von denen sie schnell profitierten.
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Trotz der Feindseligkeit der ansässigen Bevölkerung gegen die neue Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt genehmigten und ermutigten die Machthaber der Stadt die Arbeit der eingewanderten Neuankömmlinge. Schnell erreichten die Armenier in den neu geschaffenen staatlichen Institutionen hohe Positionen. Andere nahmen an der blühenden Literatur- und Kunstszene teil. Ein wichtiger Faktor spielte wohl die entscheidende Rolle bei der Integration der armenischen Gemeinschaft: ihre religiöse Zugehörigkeit. Da der Libanon von den Franzosen dazu bestimmt worden war, ein von Christen beherrschtes Land zu sein, zementierte die Anwesenheit der Armenier diesen Plan.
Mit dem Vertrag von Lausanne von 1923, der den Flüchtlingen erlaubte, die libanesische Staatsbürgerschaft zu erwerben, wurden aus Flüchtlingen vollwertige Bürger. Dieser neue Status erforderte eine veränderte geografische und territoriale Organisation ihres Lebens im Land. Angesichts der Anwendung moderner, „funktionalistischer“ Konzepte verteilten die französischen Behörden die Flüchtlinge nach ihrem sozialen Rang und ihren Kompetenzen. Die Bauern wurden in ländliche Gebiete geschickt, während Händler und Handwerker in der Stadt angesiedelt wurden, ein Unterfangen, das bald wieder aufgegeben wurde, da sich die regionalen Zugehörigkeiten als viel stärker erwiesen als berufliche Qualifikation.
Grenzen der Moderne
Der Bau der neuen Quartiere war eine komplexe Operation, die mehrere Protagonisten umfasste: verschiedene Institutionen wie die Internationale Arbeitsorganisation des Völkerbunds und denHochkommissar für Flüchtlinge, die französischen Mandatsbehörden, die libanesische Regierung und zahlreiche lokale und internationale gemeinnützige Organisationen der Armenier. Zwischen 1927 und 1930 wurden mehrere Grundstücke außerhalb der Stadt gekauft, wo Land billig war, und der Bau der Quartiere begann. Interessanterweise waren nur Einzelpersonen für den neuen Wohnungsbau zugelassen, die den Preis des Grundstücks und der Baustoffe durch monatliche Zahlungen zurückerstatten konnten. Mit dieser Politik versuchten die französischen Behörden, die Flüchtlinge dazu zu befähigen, Eigentum zu erwerben, anstatt ihnen nur vorübergehend Schutz zu gewähren.
Von der Wahl ihres Standortes bis hin zur Gestaltung und den verwendeten Materialien wurden die neuen Quartiere nach den hygienischen Kriterien der modernen Stadtplanung konzipiert. Der Zugang zu Licht, Luft und Sonne wurde als wichtig erachtet, um den neuen Bewohnern ein gesundes Umfeld zu ermöglichen. Das oben abgebildete Viertel der Weißen Pavillons zum Beispiel bestand aus zwanzig Gebäuden aus Stahlbeton mit je acht Wohneinheiten. Jede Einheit verfügte über zwei Räume, eine Küche und eine Toilette. Stahlbeton sowie Massenproduktion und vorgefertigte Bautechniken wurden als wesentlich erachtet, um die Ziele dieser Architektur zu erreichen.
Während französische Beamte und europäische Menschenrechtsorganisationen die neuen Siedlungen lobten, schien die Akzeptanz der neuen Wohneinheiten durch die Flüchtlinge selbst weniger positiv gewesen zu sein. Die strikten Wohnquartiere waren weit davon entfernt, alle Bedürfnisse der Flüchtlinge zu erfüllen, und wenn ihre Lage auf einem Hügel auch mehr Sonne und Luft bot, waren sie doch viel zu weit von den Hauptverkehrsstraßen der Stadt entfernt. Der Stahlbeton vermochte zudem nicht, die Hitze am Eindringen in den Wohnraum zu hindern. Und so bauten sich ihre Bewohner traditionelle Holzstrukturen auf die Flachdächer ihrer Wohnungen, in denen sie den größten Teil des Frühlings und des Sommers verbrachten.
Neue Heimat durch alte Ornamente
Um 1929 hatte die Zahl der armenischen Flüchtlinge im Libanon 40.000 erreicht, eine große Mehrheit von ihnen lebte in Beirut. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise erreichten rasch den Nahen Osten und hatten zudem einen deutlichen Rückgang der internationalen Hilfsgelder zur Folge. Eine neue Phase der Errichtung armenischer Flüchtlingsquartiere wurde eingeläutet, finanziert von den Netzwerken armenischer Solidarität. Die Grundstücke für diese neuen Quartiere wurden im Sumpfland ausgewählt. Sie mussten erst trockengelegt werden, waren aber verkehrsgünstig angebunden. Die Pläne der „Patriotischen Vereine“, wie diese Netzwerke genannt wurden, sahen vor, die ehemaligen Mitbürger der gleichen armenischen Städte wieder zu vereinen. Sie waren es, die den Bau der neuen Viertel organisierten, die fortan die Namen der verlorenen Heimatstädte trugen. Ihre Wohneinheiten wurden von den Flüchtlingen selbst konzipiert und mit den französischen und libanesischen Behörden in einem Verfahren besprochen, das stark dem entspricht, was heute partizipatives Design genannt wird.
Im Gegensatz zu der standardisierten Gestaltung der von den Behörden geplanten Stadtviertel blühten in diesen selbst gemachten Quartieren Stile und Bautechniken, die lokale und importierte Elemente miteinander verknüpften – von Stahlbetonkonstruktionen über behauenen Stein bis hin zu importierten Eisenträgern und roten Dachziegeln. Der Beton, der hier als „Gussstein“ verwendet wurde, erlaubte zudem die Integration einer breiten Vielfalt architektonischer Stile. Die Flüchtlinge konnten den Zierrat, der sie an ihre Heimatstädte erinnerte, leicht reproduzieren und ihre Wohnungen auf diese Weise zu niedrigen Kosten als ihre eigenen markieren. Diese Ornamente wurden oft von persönlichen Fotos und Postkarten kopiert. Öffentliche Gebäude wie Kirchen oder Schulen wurden im Stile der öffentlichen Bauten der verlorenen Heimatstadt konzipiert und erhielten dieselben Namen.
Solidarität statt Sozialhilfe
Die städtische Expansion, die Beirut während seiner goldenen Jahre in den 1950er- und 1970er-Jahren sowie durch den wilden Urbanismus des Krieges und der Nachkriegszeit erlebte, führte zu einer räumlichen Integration der armenischen Viertel in die Stadt. Wegen ihrer besonderen städtischen und sozialen Strukturen wurden diese Quartiere zwar umschlossen, aber nicht verschluckt. Ein Viertel wie Bourj Hammoud, Beiruts „Kleines Armenien“, rühmt sich heute noch seiner armenischen Atmosphäre.
Der Rückblick auf ein Jahrhundert, das von der Ankunft der armenischen Flüchtlinge in den 1920er-Jahren bis zu ihrer erfolgreichen Integration in die heutige Beiruter Gesellschaft reicht, verrät gleich mehrere Gründe für diesen Erfolg. An ihre Spitze gehört sicherlich die Autonomie, die ihnen gewährt wurde, um verschiedene Formen ihres Lebens in der Stadt selbstständig zu organisieren. Nachdem sie jahrhundertelang als anerkannte Minderheit unter der osmanischen Herrschaft (1516–1918) gelebt hatten, waren die Armenier daran gewöhnt, sich selbst zu versorgen, anstatt sich auf staatliche Fürsorge zu verlassen. Darüber hinaus wurden sie von den örtlichen Behörden dazu ermutigt, nicht in Passivität zu verharren, sondern sich in alle Sphären des öffentlichen Lebens zu integrieren. Die starken lokalen und internationalen Solidaritätsnetzwerke, die die Flüchtlinge errichteten, spielten ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Rekonstruktion ihres Lebens und wurden nicht als Bedrohung des Staates betrachtet, sondern als einer seiner vielfältigen Partner.
Erfolg und Versagen der Moderne
Spielte die Tatsache, dass die Flüchtlinge die Religion der französischen und libanesischen Christen teilten, eine Rolle bei ihrer Integration? Selbstverständlich. Gleichzeitig waren die Franzosen durch ihre Politik des „Teilens und Herrschens“ auch daran interessiert, die armenische Gemeinschaft in eine weitere Minderheit zu verwandeln, die ihren Schutz benötigte. Auf diese Weise verrieten die Franzosen zum Teil die edlen Prinzipien, die die aufkommende Menschenrechtsbewegung in Europa erst ermöglicht hatten, zumindest so weit, wie sie von den weltlichen zwischenstaatlichen Institutionen konzipiert und gepredigt wurden. War die Moderne in ihren vielfältigen Facetten an der Integration der armenischen Gemeinschaft beteiligt? Gleich zweimal – durch ihren Teilerfolg ebenso wie durch ihr Teilversagen. Sie brachte vor allem einen dringend benötigten Paradigmenwechsel in die Bevölkerung eines jungen Nationalstaates. Und wenn die Konzepte der modernen europäischen Architektur und des Städtebaus auch teilweise gescheitert sind, führten sie doch zur Schaffung einer blühenden Volksarchitektur, die heute noch das Auge der Touristen fesselt. Das Scheitern der Konzepte des modernen europäischen Humanitarismus war problematischer, da es sektiererische Spaltungen verfestigte und zur Schaffung eines komplizierten Regierungssystems auf der Grundlage religiöser Zugehörigkeit beigetragen hat.
Dennoch gibt es viel aus der armenischen Erfahrung im Libanon zu lernen. Sie beweist, dass Migration nicht unbedingt mit den negativen Begriffen Krise, Ausnahmezustand, Instabilität und Untergang belegt werden muss, und dass Flüchtlinge nicht zwangsläufig im Spannungsfeld von Passivität, Abhängigkeit und Anpassung verharren müssen. Die armenischen Quartiere von Beirut erfuhren seit den 1920er-Jahren mehrere Wellen der Migration – von Palästinensern, Kurden, Irakern und in jüngster Zeit auch Syrern. Sie sind ein lebendiges Zeugnis dafür, das sowohl Forschern als auch Entscheidungsträgern als Auftrag gelten kann, alternative Kriterien für die Lösung an Migrationskrisen in unserer heutigen Welt zu entwickeln.
Joseph Rustom [2017]; Übersetzung: Nicolas Flessa