Hilde Reiss
1930–1932 Studierende am Bauhaus
- Geboren 16.9.1909 Berlin, Provinz Brandenburg (Deutsches Reich) | Deutschland
- Verstorben 14.9.2002 Capitola (Kalifornien), USA
- Tätigkeiten Innenarchitektin, Kuratorin, Lehrerin
Hilde Reiss wurde am 16. September 1909 in Berlin geboren und wuchs in Berlin-Charlottenburg auf. Beide Eltern waren als Journalisten tätig, doch die Tochter hat andere Pläne: bereits in ihrem Abiturzeugnis von 1928 ist vermerkt „Fräulein Reiss will Architektur studieren“. Zunächst machte sie eine halbjährige Maurerlehre, nahm Unterricht in Zeichnen und Aktzeichnen an der Malschule Bloch-Kerschbaumer und war außerdem ein Semester als Gasthörerin an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg immatrikuliert. 1929 belegte sie zwei Seminare in der Bauabteilung der Bauhochschule Weimar, weshalb sie, als sie sich zum Wintersemester 1930 zum Studium am Bauhaus Dessau einschrieb, direkt ins dritte Semester der Bau-/Ausbauabteilung wechseln durfte. Sie studierte bei Ludwig Hilberseimer sowie später bei Mies van der Rohe. Aus dieser Zeit stammen zahlreiche Entwürfe von ihr, so zum Beispiel eine „Kinderstadt“ für eine Junkers-Arbeitersiedlung mit Wohnhäusern und Schulen. Die Semesterferien nutzte sie um Erfahrungen in Berliner Architekturbüros – u.a. bei ihrem Onkel Fritz Ruhemann – zu sammeln. Im Sommer 1932 entwarf sie als Diplomabschlussprojekt ein Großstadthotel und war damit eine von vier Studentinnen, die in der kompletten Bestehenszeit des Bauhauses dort ihren Abschluss im Fach Architektur machten.
Ihren Berufseinstieg begann sie in einem Berliner Architekturbüro, musste aber kurz darauf aufgrund ihrer jüdischen Herkunft und ihres politischen Engagements in die USA emigrieren. Sie fasste in New York sehr schnell beruflich Fuß, arbeitete in den Büros der Designer Gilbert Rohde und Norman Bel Geddes und entwarf freiberuflich gemeinsam mit Lila Ulrich, einer Bauhauskommilitonin und Kollegin aus den Designbüros, Umbauten und Neueinrichtungen, die nie realisiert, aber veröffentlicht wurden. Ab 1936 unterrichtete sie zusätzlich „Interior“ an der Laboratory School of Industrial Design in New York sowie ab 1938 an der New School of Social Research. An der Laboratory School lernte sie den Architekten William Friedman kennen, den sie heiratete und 1937 mit ihm das Büro Industrial Designers gründete. Gemeinsam entwarfen sie Inneneinrichtungen, aber auch das Haus Stein für Anita und Robert Stein in Pleasantville, in dem ihre Prägung durch das Bauhaus offenkundig wird. Als es in den 1970er-Jahren zum Verkauf angeboten wurde, galt es als zu radikal und somit als unverkäuflich. Für eine freiberufliche Existenz reichten die Aufträge jedoch nicht. Friedman fand Arbeit in Iowa, später als technischer Zeichner für die Armee in Denver. Reiss folgte ihm, hatte aber keine Möglichkeit an ihr New Yorker Berufsleben anzuknüpfen. Es folgten arbeitslose Jahre. 1942 arbeiteten dann beide am Heart Mountain Relocation Center in Wyoming mit, Militärbaracken für die Internierung der japanischen Bevölkerung zu planen – ein Job, den sie zum Glück nicht lange machen musste, denn ab 1943 war sie in San Francisco als Dozentin und im Rahmen eines sozialen Wohnbauprogramms als Architektin tätig.
Ein Jahr später wurde ihr Ehemann stellvertretender Direkter des Walker Art Center in Minneapolis. Reiss gründete in Folge die Everyday Art Gallery, die 1946 im Walker Art Center mit der Ausstellung „Ideas for Better Living“ eröffnet wurde und als einer der ersten Museumsräume in den USA dem modernen massenproduzierten Design gewidmet war. In einer Kombination aus Lehr- und Verkaufsraum stellte sie der Öffentlichkeit die Vorzüge des modernen Designs vor. Nach dem Vorbild des Museum of Modern Art in New York lancierte die Galerie während der Winterferien jährliche Geschenkausstellungen mit Produkten aus lokalen Geschäften und Kaufhäusern, die von Reiss persönlich ausgewählt wurden. Von 1946 bis 1950 gab sie das Magazin „Everyday Art Quarterly – A Guide to Well Designed Products“ heraus. Ebenfalls auf dem Gelände des Art Centers entwarf sie gemeinsam mit ihrem Mann das Idea House II, das 1947 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Das für eine vierköpfige Familie gedachte Haus war nicht als Prototyp gedacht, sondern als Anregung, die Wohnungsnot der Nachkriegsjahre zu beheben. Es wurde aus kostengünstigen Materialien wie Stahl und Sperrholz gebaut und verfügte über originelle Gemeinschaftsbereiche, die dennoch jedem Familienmitglied Privatsphäre boten. Die flexiblen Räume waren so konzipiert, dass sie die Vorteile der Sonnenenergie für Wärme und natürliches Licht nutzten. Das Idea House II wurde mit modernen Geräten wie einer Spülmaschine und Möbeln von Herman Miller und Knoll ausgestattet und erhielt landesweite Aufmerksamkeit. Auch wenn daraus leider keine Folgeaufträge für sie heraussprangen, entwickelte sich das Walker Art Center und insbesondere die Everyday Art Gallery mit ihrem Magazin als Vorreiter der amerikanischen Moderne der vierziger und fünfziger Jahre. Sogar Gropius besuchte sie dort im Jahr 1948.
Anfang der fünfziger Jahre eröffnetet Reiss in Palo Alto das House of Today, ein Einrichtungsgeschäft, das sehr gut lief und moderne Möbel populär machte. Sie schloss das Geschäft im Jahr 1976, um ein kleineres mit dem Namen Pelican in Capitola/Kalifornien zu eröffnen, das sie bis 1985 betrieb. Sie arbeitete daraufhin zehn Jahre ehrenamtlich in einem Laden der Stadtbibliothek in Santa Cruz. Hilde Reiss starb im Herbst 2002 in Kalifornien.