Die Lösung ist Gleichberechtigung

Austin Zeiderman über Städte zwischen Sicherheit und Gerechtigkeit

Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist das Thema Sicherheit zurück auf der globalen Agenda. Was aber macht Städte wirklich sicherer und welche Voraussetzungen brauchen Architekten und Stadtplaner für ihre Arbeit? Wir haben mit dem Autor von „Endangered City: The Politics of Security and Risk in Bogotá“ über echte und vermeintliche Quellen urbaner Unsicherheit gesprochen.

Johannes Bauer (Tokyo 2017), studiojohannesbauer.com
Die Städte des Globalen Nordens erfahren gerade, welchen Herausforderungen die Städte des Globalen Südens schon sehr lange ausgesetzt sind.

Zur Person

Austin Zeiderman (London) ist außerordentlicher Professor für Geografie an der London School of Economics und wissenschaftlicher Mitarbeiter im LSE-Cities-Programm.

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Das Aufeinandertreffen so zahlreicher Menschen auf engstem Raum hat die Stadt schon früh zu einem Marktplatz konkurrierender Bedürfnisse gemacht. Spezifische Netzwerke traten an die Stelle traditioneller Organisationsstrukturen wie der Dorfgemeinschaft oder der Familie. Kultgemeinschaften, aber auch politische Teilhabe und wirtschaftliche Verflechtungen machten den Einzelnen rasch zu einem „politischen Wesen“. Die Verhandlung von Konflikten, die den Widerstreit von Interessen und Ideen von Anfang an begleiteten, gilt als eine Kernkompetenz städtischer Kultur, nicht erst seit der Moderne. Doch wie kann es Architekten, Stadtplanern, Politikern und Bürgern gelingen, eine Stadt zum Erfolg zu führen und sie vom Täter zum Vermittler werden zu lassen?

Inwiefern gibt es einen Zusammen­hang zwischen moderner Architek­tur und den heute vorherrschenden sozialen Problemen in Städten?

Die Moderne schuf unterschiedliche Arten von Einrichtungen und Infra­strukturen, manche von ihnen in physischer Form, andere nicht. Diese Institutionen und Infrastruk­turen wurden geschaffen, um Risi­ken zu minimieren, Schwachstellen auszugleichen und Bedrohungen des gesellschaftlichen Lebens ent­gegenzuwirken. Das war einer derzentralen Grundsätze der Moderne. Wahrnehmbar wird das anhandeines öffentlichen Gesundheitssys­tems, in der Einrichtung von Sozial­wohnungen, im Umweltschutz und in Fragen der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz.

Heute sehen sich alle diese Strukturen und Institutionen ein Stück weit einer Bedrohung ausgesetzt, die nicht zwangsläufig extern, sondern auch innerhalb ihrer selbst entsteht. Sie werden von den gleichen Regierungsorga­nen abgebaut, die eingerichtet wurden, um sie zu schützen oder zu verwalten.

Dies führt mich zu der Überlegung, dass es, während be­stimmte Aspekte der Moderne durchaus verworfen oder über­dacht werden sollten, andere moderne Werte, Sorgen und Konzepte gibt, an denen festgehalten werden sollte. Anstatt also die Moderne zu beschuldigen, die sozi­alen Probleme von heute verursacht zu haben, konzentriere ich meine kritische Aufmerksamkeit auf die politischen Entscheidungen undhistorischen Bedingungen, die dafür verantwortlich sind, dass die Moderne viele ihrer Versprechen nicht erfüllen konnte.

Schenkt man dem derzeit vorherr­schenden politischen Narrativ Glau­ben, so lautet der Auftrag der Poli­tik Gefahrenabwehr: Klimawandel, Terroranschläge, Flüchtlingskrise – in fast allen Demokratien ernten Panikmacher Wählerstimmen, be­sonders in ländlichen Gegenden. Geht die Welt in Städten später unter?

Wir sind es gewohnt, Dinge wie autoritären Populismus und seine Mobilisierung von Angst als ein ländliches, postindustrielles oder nicht städisches Phänomen zu betrachten. In gewisser Weise hängt dies mit der Rolle der städti­schen Zentren in der globalen poli­tischen und wirtschaftlichen Ord­nung und der Konzentration von Ressourcen, Möglichkeiten, Infra­strukturen und Macht in Städten zusammen. Die alarmistische Sicherheitspolitik, auf die Ihre Frage hinweist, und die Alarmisten, die mit Stimmen belohnt werden, spiegeln die besondere Art wider, wie Städte die Weltwirtschaftsordnung be­herrschen.

Im Zuge der Sicherheitspolitik haben wir der Frage, wie wir Städte sicherer machen können, viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als abgelegenen oder ländlichen Gebieten oder dem Pla­neten in seiner Gesamtheit. Es herrscht eine interessante Span­nung im Bereich räumlicher Sicher­heitsstrategien und wie sie sich an verschiedenen Orten und zu ver­schiedenen Zeiten manifestieren. Meine breitere Ant­wort auf Ihre Frage ist, dass wir das Konzept der „Sicherheit“ nicht unbedingt einer politischen Partei überlassen sollten – insbesondere nicht einer rechten, nationalisti­schen, militaristischen oder autori­tären Politik. Um Foucault zu zitie­ren, der sagte, fortschrittliche oder radikale Formen der Regierung seien noch nicht erfunden worden: Das Gleiche lässt sich auch über die Sicherheit sagen. Darüber sollten wir im gegenwärtigen Moment nachdenken.

Die Terroranschläge vom 11. Sep­tember 2001 scheinen ein Wende­punkt gewesen zu sein, auch wenn es schon zuvor zahlreiche Anschläge in Großstädten auf der ganzen Welt gab. Inwiefern beeinflusst das Nar­rativ der verwundbaren Stadt die Städteplanung der Gegenwart?

Einer der wichtigsten Aspekte stelltsich für mich zuallererst in der Frage, wie sich unser Umgang mit den begrenzten öffentlichen Res­sourcen durch die Vorstellung einer verwundbaren oder einer gefähr­deten Stadt (wie ich sie in meinem Buch von 2016 nenne) verändert. Das ist eine grundlegende Ebene, in der Sicherheit die Stadtplanung beeinflusst. Wenn wir uns einmal die Zukunft von Städten als ver­wundbar, bedroht oder gefährdet vorstellen, werden Ressourcen anderen wichtigen Bereichen wie Wohnen, Gesundheit und Bildung entzogen. Was bedeutet es, wenn diese knappen Ressourcen zuguns­ten viel begrenzterer Anliegen (wie der grundlegenden Ziele des Schutzes, des Vorbereitetseins oder gar des Überlebens) umgelei­tet werden?

Davon abgesehen ist es meiner Meinung nach wichtig, darüber nachzudenken, wie das Leben in der gefährdeten Stadt unsere Interaktion mit öffentlichen Institutionen verändert, was wir von ihnen erwarten und wozu wir sie befähigen. Wir sollten darü­ber nachdenken, wie die gefähr­dete Stadt das verändert, was es bedeutet, ein städtischer Bürger zu sein. Ein Beispiel wäre die Art und Weise, in der unsere Rechte als Bürger durch die Auseinanderset­zung mit Fragen der Sicherheit, der Verwundbarkeit, des Risikos und des Grades, in dem unsere Städte zunehmend um diese Fragen herum organisiert werden, gestärkt wer­den. Ich denke, hier ndet gerade eine elementare Verschiebung statt

Es gibt zahlreiche verschiedene Sicherheitskonzepte auf der ganzen Welt. Wenn Sie die afrikanischen, asiatischen oder südamerikani­schen Städte mit dem westlichen Ansatz von Sicherheit vergleichen: Worin liegen für Sie die größten Unterschiede?

Ich möchte über Unterschiede und Gemeinsamkeiten sprechen. Die Art und Weise, wie ich mich der Differenz nähern würde, ist das, was einige lateinamerikanische Denker „Modernität/Kolonialität“ genannt haben. Hier denke ich an die lange Geschichte der ungleichmäßigen globalen Entwicklung, durch die Städte auf der ganzen Welt, insbe­sondere in der kolonisierten Welt, daran gehindert wurden, in gleicher Weise eine urbane Moderne zu erle­ben wie die Städte des Nordatlantiks oder des Globalen Nordens. Diese historisch gewachsene Ungleichheit spiegelt sich auch im Bereich der Sicherheit wider, insbesondere in Bezug auf die Ressourcen, die Städte diesem Thema widmen.

Ich denke, es gibt auchein Argument dafür, dass wir uns in einem Moment echter Transforma­tion befinden, wo die Städte des Globalen Nordens mit Bedrohungenund Herausforderungen zu kämp­fen haben, die andere Orte in dem, was wir oft als den Globalen Süden bezeichnen, schon lange kennen. Die Frage, wie mit einer radikal unsicheren Zukunft umgegangen werden soll, ist für den Globalen Norden heute hochaktuell und könnte als interessanter Perspek­tivwechsel in Fragen der Urbanität verstanden werden.

Ich denke, wenn wir damit beginnen, die historischerzeugten Formen von Ungleichheit zwischen Städten und die uneinheitlichen Geografien anzuerken­nen, die in der gegenwärtigen Stadtkultur sichtbar sind, führt dieszu einer interessanten globalen Konversation. Viele der Bedenken, die wir derzeit diskutieren, stellen eine grundlegende Herausforderung dar und überschreiten nicht selten die Aufteilung der Welt in Globaler Norden/Globaler Süden.

Nehmen wir den Klima­wandel und aktuelle Diskussionen zum Anthropozän, so behindern die Trennlinien zwischen Nord und Süd wichtige globale Gespräche, und das sogar dann, wenn sie ganz reale und greifbare Unterschiede mar­kieren.

Was bedeutet es, wenn Gebäude mit einer gesellschaftlichen oder politischen Macht oder Agenda ausgestattet werden?
Was bedeutet es, wenn Gebäude mit einer gesellschaftlichen oder politischen Macht oder Agenda ausgestattet werden?

Wie müssen Gebäude aussehen, die Vorurteilen entgegenwirken?

Wir sollten damit anfangen, uns Gebäude oder Räume vor Augen zu führen, die das Gegenteil tun, im Sinne der Schaffung oder Verstär­kung von Vorurteilen. Defensive Architekturen oder Infrastrukturen werden oft zu eklatanten Förderern der Kriminalisierung von Armen, Rassifizierten oder anderen Minder­heiten. Wenn wir herausfinden wol­len, welche Gebäude und Räume Vorurteilen entgegenwirken, sollten wir zunächst über Planungs-­ und Baupraktiken nachdenken, die bereits bestehende Formen von Dis­kriminierung und Ungerechtigkeit hervorbringen oder reproduzieren.

Wenn ich jedoch ver­suche, positiver an die Frage heran­zugehen, würde ich vorschlagen, dass wir auch über Gebäude und Räume nachdenken sollten, die die Vorurteile, die überall um uns herumexistieren, tatsächlich sichtbar machen und konkretisieren. Mitanderen Worten: Räumliche Gestal­tung kann uns dazu bringen, ver­schiedene Vorurteile, die in Gesellschaften existieren, zu reflektieren, zu diskutieren oder sogar zu kon­frontieren und zu verändern. Ich muss es den Gestaltern, Architek­ten und Stadtplanern da draußen überlassen, herauszufinden, wie das geht, aber ich vertraue darauf, dass sie mit vielen wirklich interes­santen und aufregenden Ideen auf­warten werden.

In einem weiteren Sinne weist ihre Frage darauf hin, dass die Politik von Staaten und Bauwerken ein Problem ist, mit dem wir uns befassen müssen. Wir müssen aber auch aufpassen, wel­chen Stellenwert wir Gebäuden im politischen und gesellschaftlichen Bereich beimessen. Wenn wir uns dafür interessieren, wie Gebäude Vorurteilen entgegenwirken kön­nen, müssen wir uns auch die Fragestellen, wie viel sie selbst dazu  tatsächlich beitragen. Das ist natür­lich eine lange Debatte der Moderne. Ich möchte gar nicht infrage stellen, über die Politik des Raums und der gebauten Form nachzudenken, aber ich möchte sehr wohl hinterfragen, wie sehr wir glauben, die Verbindung zwischen Räumen und Politik wirklich gestal­ten und kontrollieren zu können. Wie kommt es, dass Gebäude mit politi­scher und gesellschaftlicher Hand­lungsmacht ausgestattet werden, um breitere Effekte zu erzielen? Das ist eine Frage, die ich stellen möchte. Dazu gehören Gestalter, Architek­ten und andere, die räumlich gebil­det sind, aber auch diejenigen, die versuchen zu verstehen, wie es kommt, dass der soziale und der politische Bereich ebenfalls konsti­tuiert sind.

Wie viele Soziologiestunden sollte ein Architekturstudium beinhalten?

Eine ernsthafte Auseinanderset­zung mit Soziologie, Anthropologie, Geschichte und Geografie ist unheimlich wichtig. Viele Architek­turstudenten machen das schon, aber meistens auf einer eher theo­retischen Basis, während ich gerne sehen würde, dass sie mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit auf langweiligere Themen richten wie Forschungsmethodik oder auf Fra­gen der Forschungsethik und was wir als Beweismittel gelten lassen. Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns in den Sozial-­ und Geisteswis­senschaften recht häufig. Wie viel müssen wir über einen Ort oder ein Thema oder einen Zeitraum der Geschichte wissen, um etwas darü­ber sagen zu können? Ich denke, dass sich Architekten diese metho­dischen Fragen stellen sollten, etwa was es bedeutet, eine langfristige Feldforschung als Architekt zu machen. Wie beeinflusst das die Praxis des Architekten? Wie verän­dert das die Art von Vorschlägen, Plänen oder Ideen, die der Architekt entwickelt?

Aber diese Frage geht in beide Richtungen: Wie viele Stun­den Architektur sollte ein Geograf, Historiker, Soziologe oder Anthropo­loge belegen? Menschen mit meiner Art von Ausbildung können dadurch einige wesentliche Dinge lernen, zum Beispiel, wie man eine räumliche Sensibilität und Aufmerksamkeit in Bezug auf allgemeinere soziale und kulturelle Fragen entwickelt. Auch eine Auseinandersetzung mit dem Visuellen und dem Ästhetischen ist ein Schlüsselelement, das wir in den Geistes-­ und Sozialwissenschaften von Architekten lernen können. Die imaginären Ressourcen, die in den Architekturschulen gefördert und vertieft werden, fehlen oft in unseren Disziplinen, wo der Schwerpunkt auf dem liegt, was wir empirisch dokumentieren können.

Vollständige Sicherheit in Städten ist eine Fiktion, über die wir uns nur bedingt Gedanken machen sollten.
Vollständige Sicherheit in Städten ist eine Fiktion, über die wir uns nur bedingt Gedanken machen sollten.

Welche Stadt ist momentan am bes­ten gewappnet, um die Herausfor­derungen der Zukunft zu meistern? Und welche bereitet Ihnen eher Sorgen?

Von einem Ort wie Bogotá können wir vielleicht mehr über die Gegen­wart und die Zukunft der globalen urbanen Welt lernen als von London, Paris, Berlin, New York oder Tokio. Über diese Orte mache ich mir grö­ßere Sorgen als über die Bogotás dieser Welt, denn sie stecken stär­ker in bestimmten Denkstrukturen und Modi des städtischen Wohnens, Konsums, Transports und der Res­sourcenabhängigkeit fest, die die Welt erst in eine so schlimme Situa­tion gebracht haben. Ich bin besorgt über die Unzulänglichkeit jener Denkstrukturen und der Lebenswei­ sen, in denen viele der sogenannten großen modernen Städte stecken geblieben sind.

Gleichzeitig möchte ich nicht zu romantisch über die anhaltenden und massiven globalen Ungleichheiten zwischen diesen Orten hinweggehen. Schließlich konnte sich eine Stadt wie New Yorkin einer ziemlich kurzen Zeitspanne von etwas so Verheerendem wie Superstorm Sandy erholen, basie­rend auf den Ressourcen, die ihr zur Verfügung stehen.

Wie sicher kann eine Stadt über­haupt sein?

Ich denke, dass diese Frage von grundlegender Bedeutung ist, und möchte sie daher nicht einfach mit dem Hinweis abtun, dass die Idee, dass jede Stadt vollständig oder dauerhaft sicher sein kann, eine Fik­tion ist. Nichtsdestotrotz beunru­higt mich Sicherheit als ein Ideal der städtischen Sphäre. Wir können niemals völlig sicher sein. Ich weiß nicht, wie ich dieses besondere Paradoxon nennen soll, aber die Tatsache, dass man die Nachfrage nach einer siche­ren Stadt niemals befriedigen kann, führt dazu, dass man immer mehr Ansprüche an die sichere Stadt stellt – und die einzige Forderung, die man an eine solche Stadt stellen kann, ist noch mehr Sicherheit. Das ist meine größte Sorge: dass die For­derung nach mehr Sicherheit jeden Rahmen sprengt, den andere städti­sche Werte oder Ideale besitzen.

Wie sollte eine Stadt in Ihren Augen aussehen?

Gleichberechtigung wäre eine mei­ ner Antworten. Lassen Sie uns die Möglichkeiten durch denken, in denen sich die Forderungen nach einer gleichberechtigten Stadt von den Forderungen unterscheiden, die wir an das Ideal einer Stadt heute stellen. Ich denke, das bringt uns wieder zurück zu der Frage der Moderne. Die Moderne beinhaltet eine Sammlung politischer Verspre­chen, die noch immer sehr wichtig sind. Das moderne infrastrukturelle Ideal war eines davon, und Gleich­heit war zentral.

Eine Stadt, die Wohn­raum und andere Vorteile für jeden mit sich bringt, hat vermutlich nie­mals wirklich existiert. Und dennoch denke ich, dass dies nach wie vor ein Ideal ist, an dem wir aus praktischen und politischen Zwe­cken festhalten sollten. Mit diesem Ziel verhält es sich ähnlich wie mit der Art und Weise, in der Sicherheit funktioniert; und zwar als ein andauernd unerfülltes politisches Versprechen, das nur zu immer mehr Forderungen führen kann. Aber wenn das Ideal die gleichbe­ rechtigte Stadt ist und nicht die sichere Stadt, kann das Ergebnis viel positiver ausfallen

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Herr Zeiderman, vielen Dank für das Gespräch!

Dieser Artikel stammt aus der zweiten Ausgabe des Magazins „bauhaus now”.

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