Wider die Schäden einer nervösen Zivilisation
Gesundheit am Bauhaus
Gesundheitsförderung und Prävention waren schon am Bauhaus wichtige Themen. So galten nicht nur Atem- und Konzentrationsübungen, sondern auch Kunstwerke selbst als heilsam.
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Ähnlich dem „Burn-out“, das heute in aller Munde ist, galt in den 1920er- Jahren die „Neurasthenie“ als Epochenkrankheit. Reaktionen auf diese drohende Erkrankung der Nerven des aus dem Gleichgewicht geratenen Menschen fanden sich am Bauhaus vielfach: Gesundheit war ein großes Thema, das eng in die Lehre und die künstlerische Arbeit eingebunden war. Man ging davon aus, dass nur der ausgeglichene, gesunde Mensch gute schöpferische Leistungen erzielen könne.
Von 1920 bis 1923 bildete die Harmonisierungslehre der Musikpädagogin Gertrud Grunow die Basis des Bauhaus-Curriculums. Sie versuchte, ihre Schülerinnen und Schüler durch Töne, Farben und Bewegung körperlich, seelisch und geistig in Harmonie zu bringen. Grunow entwickelte einen zwölfteiligen Farb- und Tonkreis, der mit geschlossenen Augen abgeschritten und empfunden wurde. Durch das Aufrufen von Farben im Geiste sollten sich die Bauhäusler lockern und zu einem natürlichen Gleichgewicht zurückfinden: Organische wie geistige Unregelmäßigkeiten, Verfestigungen und Disbalancen galt es auszugleichen.
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Johannes Itten stellte Ernährungsregeln auf, die er der Heilslehre Mazdaznan entnahm. Fleisch, Alkohol, Tabak und andere Genussmittel waren tabu, genossen wurden dagegen Porridge aus Weizen, Hafer und Gerste, die gleich heutigen Biolebensmitteln und Entschlackungskuren den Körper zu reinigen versprachen. Weiterhin integrierte er Gymnastik und Atemübungen in seine „Vorlehre“. Dies diente nicht dem Aufbau von Muskeln, sondern der Schulung von „Erlebensfähigkeit“ und „Ausdrucksfähigkeit“.
Körper und Geist sollten, wie bei Grunow, gelockert werden, um fest sitzende Spannungen zu lösen. In Morgenübungen verausgabten die Studierenden sich zunächst in Turnübungen, die räumliche Bewegungen des Streichens, Ziehens, Stoßens, Schlagens, Tastens, Pritschens, Packens, Spielens und Tänzelns umfassten. Anschließend folgten ruhigere Atem- und Konzentrationsübungen, die, ähnlich wie im Yoga, der Herstellung eines inneren Gleichgewichts dienten.
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Doch nicht nur die Arbeit am Bauhaus war von Gesundheitsfragen geleitet. Auch von den Kunstwerken sollten heilsame Wirkungen ausgehen. Paul Klee sinnierte darüber, wie seine Bilder gleich einem milden Kurort am Mittelmeer auf die Betrachter/-innen einwirken könnten. Seine leuchtend-vibrierenden Farbkompositionen setzte er dem grauen, lichtarmen Dessau entgegen. So verstand er seine Kunst als „Villeggiatur“ – als sommerlichen Landaufenthalt –, der einen Luftwechsel und die Stärkung der Seele ermöglicht.
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Über allem stand der Wunsch, zu einer natürlichen Existenzweise und einem natürlichen Rhythmus zurückzugelangen, um den Schäden der nervösen Zivilisation entgegenzutreten. Zugleich suchte man nach neuen Weisen des Arbeitens und effektiven Formen der Regeneration – eine Suche, die unsere Gegenwart gleichermaßen prägt. Offenbar in der Einsicht in die Unaufhaltsamkeit gesellschaftlicher Entwicklungen sollte der Mensch wie heute gewappnet werden gegen die Herausforderungen der Leistungsgesellschaft und durch eine gute, jung haltende Lebensweise seine Produktivität und Leistungsfähigkeit erhöhen. Der Aufenthalt in der Natur sowie in der neuen, gesundheitsförderlichen Licht- und Luftarchitektur war hierfür ebenso relevant wie eine gute Ernährung, die körperliche Betätigung und die stetige Harmonisierung von Körper und Geist.
[LB 2017]