Die Kunst der Erinnerung
Robert Wilson spielt „Krapp’s Last Tape“
Von Rüdiger Schaper
Die Welt als Vaudeville und Vorstellung: Häufig erwecken Samuel Becketts Helden den Eindruck, dass sie verkrachte, entlaufene Schauspieler sind, die sich an ihre früheren Rollen erinnern und sie noch einmal durchspielen. Sie stecken deshalb auch immer in einer bestimmten, vom Autor bezeichneten Situation, tragen ein unsichtbares Gehäuse mit sich herum. Beckett-Texte setzen Bühnenräume auf die Bühne. So verdoppeln sich nicht nur die Akteure – Schauspieler spielen Schauspieler, die Schauspieler sind –auch Raum und Zeit stehen neben sich. Dem Regisseur, Designer und Performer Robert Wilson, der mit Psychologie und Realismus nichts anfangen kann, kommt das entgegen. In einem Interview sagte er: „Naturalistisches Theater sieht für mich immer so künstlich aus. Ich brauche Make-up, Maske, Kostüme – Illusion! Ich brauche Licht auf der Bühne, viel Licht“.
In seinem „Hamlet“-Solo spielte Robert Wilson nicht nur sämtliche Rollen des Dramas von Shakespeare, verkörperte und evozierte er nicht allein all ihre Stimmen auf der Bühne, die der Mutter, des Onkels, des Polonius und der Ophelia. Er bediente sich in den Monologen des Prinzen auch der Tonlagen, der Diktion berühmter historischer Hamlet-Darsteller wie Joseph Kainz und Alexander Moissi, Er nahm ihre Stimmen, ihren deutschen Vortrag von Schellack-Platten ab und transponierte sie in seine englischsprachige Aufführung. Wilsons hoher und hysterisierter texanischer Singsang ergänzt sich wunderbar mit dem Deklamationsstil der vergessenen Theaterhelden des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Auch Asta Nielsens Stummfilm-Hamlet hat sich in Wilsons One-man-Show hineingeschlichen.
Robert Wilson spricht Teil 2
Wilsons Verbindung zu Europa und den europäischen Avantgarden ist evident. Sein Theater gleicht einem schwirrenden, irrlichternden Museum. Dabei stechen – neben der Ballettkunst eines George Balanchine und japanischer Darstellungsästhetik – der Expressionismus und der deutsche Stummfilm heraus, den er noch einmal ins Groteske zieht. In seiner Bühnenarchitektur spürt man Einflüsse des Theatervisionärs Edward Gordon Craig und vom Bauhaus – Wilsons Beziehung zu Oskar Schlemmer wird selten beachtet. Sie äußert sich ganz offensichtlich in der Puppenhaftigkeit seiner Figurinen und der Nähe zum Tanz. Schlemmers „Triadisches Ballett“, das geometrische Empfinden und die Farbphilosophie des bildenden Bauhauskünstlers – all das gehört zu dem Fundus, aus dem Wilson sich seine schöne alte und stets wie neu aufblitzende Welt gebaut hat. Auch seine Bühnenobjekte – man mag kaum von „Requisiten“ sprechen – folgen einer klaren formalen Ästhetik und Funktion. Robert Wilson übrigens ist ein leidenschaftlicher Sammler von allen möglichen Artefakten. Stühle liebt er besonders.
Die Karriere des Texaners lief über Paris; wo auch Samuel Beckett lebte. Die Aufführung seiner vierstündigen Oper „Deafman Glance“ im Jahr 1971 in der französischen Hauptstadt brachte internationalen Ruhm. Louis Aragon war derart enthusiasmiert, dass er in einem offenen Brief von einem „Wunder“ schrieb, „auf das wir gewartet haben.“ 1976 folgte, wieder in Frankreich, die Oper „Einstein on the Beach“ mit der mantrahaften Musik von Philip Glass. Seitdem war er in Europa künstlerisch stärker verankert und geachtet als in den USA Der Louvre öffnete sich für Robert Wilson und seine elektronischen „Lady Gaga Portraits“, in denen die Pop-Künstlerin in Bildwelten von Ingres und Jacques-Louis David posierte.
Wilson liebt die Stars der Vergangenheit. Doch in seinem Theaterkosmos vergeht nichts. Marlene Dietrich zitiert er gern mit dem Satz: „You have to place the voice with the face.“ Gesagt ist damit, dass das Gesicht der Sängerin oder Schauspielerin der Stimme Raum gibt. Das Gesicht macht die Stimme sichtbar. Und die Stimme strahlt aus auf die Augen, den Mund. Die Töne kommen bei Wilson aus einer gewissen Kälte. Er setzt kaltes Licht, und die Bewegungen seiner Akteure werden gemeinhin als langsam beschrieben, was aber nur die halbe Geschichte ist. Denn was heißt „schnell“? Was heißt „kalt“? Was bedeutet in diesem Zusammenhang „abstrakt“? Wilson betrachtet die Dinge elementar.
„Krapp’s Last Tape“ von Samuel Beckett, 1958 in London uraufgeführt, ist ein Fest für einen alten Schauspieler. Im deutschsprachigen Theater haben Martin Held, Bernhard Minetti, Klaus Maria Brandauer, Josef Bierbichler den Krapp interpretiert. Oft hat man da eine gebrochene Kreatur gesehen, über das Tonband gebeugt, geplagt von den Geistern der Vergangenheit, ein Endspiel ohne Partner. Wilson packt die Theaternummer kräftiger an. Sein schriller Auftritt lässt Trauer nicht aufkommen. Und auch kein Mitleid mit einem einsamen Alten. Dieser Krapp ist nicht besonders sympathisch, kleine Kinder würden sich vor seinen spitzen Schreien und maliziösen Posen erschrecken. Hier präsentiert sich ein weiß geschminkter Zauberer-Clown als Dompteur kollektiver Erinnerungen. Wie im „Hamlet“ führt er Stimmen spazieren, hört in sich hinein, ist die Welt ein Kosmos aus scharf gegliederten Lichteinstellungen und Tonsequenzen. Krapps Bühne könnte ein Studio sein, ein elektronisches Archiv, ein Schaltraum. Der Schauspieler Wilson mischt eine Comic-Figur mit „König Lear“. Das Haar steht ihm zu Berge, eine Reminiszenz und Reverenz an Albert Einstein. So paradiert das 20. Jahrhundert vorüber – mit den tierisch-komischen Sounds eines Walt Disney, mit den Grimassen französischer Mimen und Memoirs der Music Hall, aus der Tiefe des Raums, der an einen Atombunker denken lässt. Ein Cyborg könnte sich der Krapp-Rolle bemächtigt haben und den alten Bändern die menschliche Stimmgebung ablauschen. So mechanisch, wie Wilsons Krapp seine Beckett’schen Bananen verschlingt, erscheint es durchaus möglich, dass eine Künstliche Intelligenz hier einen Text lernt, den ein Schauspieler der Nachwelt hinterlassen hat, der er wenig Überlebenschancen einräumte. Krapps „Letztes Band“ enthält seine frühe Liebe. Eine Szene aus einem abgespielten Stück, verdammt zu ewiger Wiederholung.