Ein Interview mit Richard Siegal: Da Totale Tanztheater und Txtorrent
von Carmen Kovacs
Alle Arbeiten, die während des Festivals gezeigt werden, werden in Bezug auf und in Relation zu bestimmten Bauhaus-Phänomenen und Errungenschaften gelesen. Wie gestaltet sich das Verhältnis von Referenz und Originalität in den zwei Arbeiten, die Sie für das Festival kreiert haben?
Ehrlich gesagt denke ich nicht aktiv darüber nach, ob es originell ist, was ich mache. Aber ich denke darüber nach, woher Ideen kommen. Und ich glaube, dass die eigene Originalität gar nicht ohne Referenz auskommt. Originalität kann man an ihren Auswirkungen messen. Wenn man beispielsweise Strawinskys Sacre du printemps nimmt – so etwas fällt nicht einfach vom Himmel, sondern ist eingebettet in ein komplexes Feld aus kulturellen Verkettungen, die historisch gewachsen sind. Kann man behaupten, dass genau in dem Moment etwas „Neues“ hervorgebracht wurde? Oder war es viel eher die Geburt einer Idee, die über lange Zeit gewachsen war? Und die sich dann genauso in das kulturelle Geflecht integriert, Teil davon wird. Ich glaube, mit Bauhaus verhält es sich ganz ähnlich: es ist in uns, mittlerweile tief verwurzelt und wir können nicht anders, als es zu besitzen. Aber bloß in dieses kulturelle Erbe hineingeboren zu sein, reicht nicht aus. Man muss sich involvieren, sich aktiv damit auseinandersetzen.
Das tun Sie mit zwei sehr unterschiedlichen Arbeiten. Wie haben Sie sich der künstlerischen Auseinandersetzung mit Bauhaus angenähert?
Um das vorwegzunehmen: Bauhaus ist ein Gebiet, auf dem ich mich nicht als Experte oder Autorität begreife – für die künstlerische Auseinandersetzung also eine großartige Voraussetzung. Aber natürlich sind die Konsequenzen, die Bauhaus nach sich gezogen hat in meinem Leben präsent – und zwar seit ich denken kann. Zu den Arbeitsweisen des Bauhaus habe ich eine starke Affinität, weil die Arbeit mit meiner Company Ballet of Difference auf ähnlichen Werten und Prinzipien beruht. Ich glaube aber, dass eigentlich jede zeitgenössische Kunst auf den Schultern des Bauhaus steht, weil dort Ideen miteinander verbunden und innerhalb der Formung eines institutionellen Phänomens sichtbar und wahrnehmbar wurden, die heute noch ein Fundament für viele Künstler darstellen. Es waren ja auch spannende Zeiten, gerade das frühe Stadium der Massenkommunikation betreffend. In dem Zusammenhang hatte ich mich zuerst mit Ise Gropius, der Frau von Walter Gropius beschäftigt, die einen großen Einfluss auf das Branding von Bauhaus hatte und das Image nach außen kommuniziert hat. Heute würde man das als PR und Marketing bezeichnen. Während der Recherche-Phase bin ich dann auf Oskar Schlemmers „unliterarischen“ Umgang mit Sprache gestoßen – und war fasziniert, weil mich dieser Zugriff auf Sprache schon eine ganze Weile lang beschäftigt. Ohne es zu wissen, hatte ich Schlemmers Ideen „geerbt“ und war – genau wie er – interessiert daran, mich Wort und Sprache ‚unliterarisch‘ zu nähern, „eben elementar, als Ereignis, als würde es erstmals vernommen -…“(O.S.1927)
Diese Haltung gegenüber der Sprache habe ich in den Arbeiten von Kurt Schwitters gefunden, der ja auch in Verbindung mit den Bauhaus-Künstlern stand. Das hat mich inspiriert, eine Arbeit zu konzipieren, die sich mit Text und gesprochener Sprache auseinandersetzt. Dafür konnte ich zwei großartige Künstler gewinnen, nämlich die Schauspielerin Sandra Hüller und den Musiker und Komponisten Carsten Nicolai, der vielen als Alva Noto bekannt ist.
Wieso wollten Sie gerade mit diesen beiden Künstlern arbeiten?
Weil die darstellenden Künste über kollaborative Prozesse funktionieren, will man mit den Besten arbeiten. Was die beiden tun ist exzeptionell und inspiriert mich sehr. Für mich war es außerdem spannend, dass Sandra und Carsten einander noch nicht begegnet waren. Ich mag es, Menschen zusammenzubringen und Gemeinschaft um gemeinsame Ideen und Sensibilitäten zu formen. Zu Carstens Musik habe ich in der Vergangenheit schon Stücke choreographiert, aber hatte noch nicht die Gelegenheit, mit ihm persönlich zu arbeiten. Sandra habe ich über die letzten Jahre eher auf einer persönlichen Ebene kennengelernt – und habe gleichzeitig großen Respekt vor ihrer Arbeit als Schauspielerin.
Was heißt es, wenn ein Choreograph nicht mit Tänzern zusammenarbeitet?
Über die Genregrenzen hinauszudenken und zu handeln, ist ziemlich Bauhaus. Für mich persönlich bedeutet es, dass meine Arbeit und vor allem mein Denken nicht durch Genre-Labels limitiert wird. Ich will frei sein, in jedem Medium zu arbeiten, das mich berührt. Die Tatsache, dass Sandra keine Tänzerin im engeren Sinne ist und ich kein Regisseur bin, hindert mich nicht daran, mit ihr zu arbeiten. Im Gegenteil – ich suche ja auch immer wieder nach unbequemen Zuständen, aus denen ich lernen kann.
Welche Rolle übernimmt die Musik in TXTORRENT?
Wir werden versuchen, zu dritt Strategien zu entwickeln, in denen die Musik und Sandras Performance in Beziehung zueinander treten. Mit dem Computer als digitales Instrument hat Carsten ein starkes und virtuoses „tool“ in der Hand, mit dem er live auf den Gebrauch von Sprache, Stimme, Bewegung oder auch Sounds, die Sandra durch ihren Körper produziert, reagieren kann – und damit auch auf der Bühne zu sehen sein wird. Und das wiederum wirkt sich auf Sandra aus, sodass die beiden eine Art Konversation mit unterschiedlichen Mitteln, in unterschiedlichen Sprachen miteinander führen können. Interessant wird es, wenn die gesprochene Sprache nicht nur auf semantischer Ebene funktioniert, sondern auch zum Signal wird, das einen weiteren musikalischen Prozess in Gang setzt, der beispielsweise einer ganz eigenen musikalischen Logik folgt – und plötzlich Poesie wird. Es ist wie ein Spiel, ganz ohne Hierarchie innerhalb der Elemente, eher wie eine Feedback-Schleife. Beide müssen natürlich sehr wach sein, um aufeinander zu reagieren und Entscheidungen treffen zu können. Sandra wird außerdem noch Kopfhörer bekommen, die ihr aufgezeichnetes Textmaterial abspielen. Sie darf dann entscheiden, welchem Material, und auch wann und wie sie diesem eine Stimme gibt, wie sie es interpretiert. Und diese Stimme wird wiederum zu einem musikalischen Instrument für Carsten.
Wie werden Sprache und Bewegung miteinander in Beziehung gesetzt?
Wie sich Sprache oder Text und Bewegung zueinander verhalten, beschäftigt mich schon eine ganze Weile. Das ist eine der Ausgangsfragen, die ich mir ebenso stelle und die sich nur durch die kollaborative Arbeit im Probenprozess beantworten lassen wird. Ich kann mir vorstellen, dass Bewegung eine Art Kontrapunkt zu dem „text torrent“ sein kann, also zu dem Textschwall, der aus Sandra herauskommt. Ich glaube, es handelt sich dabei im Idealfall um einen fast meditativen und hoch konzentrierten Zustand, in dem man zuhört und zu selben Zeit produziert. Dafür muss man loslassen können, Abstand gewinnen von seinen eigenen reflektierenden Gedanken und nicht mehr aktiv und umständlich darüber nachdenken, was man in dem Moment genau produziert. Und dann kommt der Flow.
Ist purer Tanz am Ende? Was ist Ihre Prognose?
Was bedeutet pur, was Tanz, und wann ist etwas am Ende? Ich glaube, die Frage, die wir uns hier stellen müssen, betrifft die Auseinandersetzung zwischen Innovation und Erhaltung, zwei Kräfte, die ständig miteinander interagieren. Auch im Tanz gibt es Konventionen und Regeln und in gewisser Weise auch bestimmte exkludierende Verhaltensnormen, die es wert sind, konserviert zu werden, weil sie Formen erschaffen haben, mit denen wir immer noch arbeiten und die zu unserer Identität gehören. Aber natürlich kommt jede künstlerische Praxis notwendigerweise auch mit der Entwicklung moderner Technologien in Berührung, was logischerweise neue Formen kreiert. Und am Ende ist ja alles, was konserviert wird, eine ehemalige Innovation, die sich innerhalb unserer Kultur entwickelt und etabliert hat.
Und die Entwicklung moderner Technologien ist zentral für Ihren zweiten künstlerischen Beitrag für das Bauhausfestival: eine Choreographie, die Teil einer Virtual Reality Installation ist. In Fortführung von Gropius Visionen, ist „Das Totale Tanz Theater“ eine immersive und interaktive Erfahrung. Was geschieht?
Innerhalb der Installation, durch die man sich mit VR-Brillen bewegen kann, wird der Besucher nicht nur zum Nutzer, sondern teilweise sogar zum Tänzer. Man hat das Gefühl, beteiligt zu sein. Es geht darum, als Teilnehmer aktiviert zu werden. Dabei gibt es vier Stadien, die man durchläuft, mit jeweils unterschiedlichem Grad an Autonomie oder Handlungsmacht. Man kann sich durch die Choreographie hindurchbewegen – und die Tänzer reagieren auf die Nutzer, je nach Stadium. Die Fähigkeit, sich zu bewegen, wird innerhalb der Installation allerdings mehr und mehr reduziert.
Für Gropius war das Totaltheater ein Theater der Zukunft. Nun ist VR zur Zeit sehr im Trend und auch die dazu notwendigen VR-Brillen ein unfassbar spannendes Werkzeug, das allerdings auch einen einschränkenden Effekt hat und sich in den nächsten Jahren stark transformieren wird. Kriegen wir also mit Hilfe der Installation so etwas wie eine Vorschau in die Zukunft?
Ich glaube, das stimmt: das VR-Projekt ist ein Zwischenschritt zu einer theatralen Ausdrucksform, die uns noch bevorsteht. Eine Form, die viel interaktiver ist und dem Nutzer mehr Handlungsmacht ermöglicht. Das Projekt zeigt uns ein technologisches Potential, das uns mehr und mehr sinnliche Erfahrungen erleben lassen wird, nicht nur visuell, sondern auch haptisch. Künstliche Intelligenz wird noch viel komplexere Interaktion mit maschinellen Entitäten möglich machen. Das wird alles verändern. Was innerhalb des VR-Projekts möglich ist, ist großartig! Aber durch die Hardware limitiert – wir befinden uns auf dem Weg, ja.
„Das wird alles verändern.“ Also nicht nur die Kunst. Werden wir eins werden mit Geräten, Hardware und Software? Werden wir Cyborgs werden? Oder: glauben Sie an die Evolution des Körpers?
Definitiv – die Entwicklung von Technologie und das Verhältnis von Körper und Technologie ist ein evolutionärer Prozess. Und das ist die Richtung, in die wir uns gerade entwickeln. Was die Cyborgs angeht: ich verstehe die Idee von Cyborg als das Zusammenwachsen von organischem und unorganischem Material, um die Fähigkeiten des Menschen zu verbessern. Das wird passieren. Wir werden verschmelzen – oder zumindest den Eindruck haben.
Guter Punkt. Was ist real?
Der visuelle Eindruck, dass man sich hundert Meter über der Erde befindet, macht etwas mit einem, obwohl man eigentlich weiß, dass das nicht „real“ ist. Der Körper reagiert trotzdem darauf und das macht es fast hyperreal. Die Angst, der Schwindel, mein Schweißausbruch – das ist real. Manchmal glaube ich, die Virtual Reality unterstützt uns bloß in einer unserer schönsten natürlichen Fähigkeiten, die unter Kindern noch weit verbreitet ist: zu fantasieren.