Der Kampf gegen die schwarze Hand
Ein Gespräch mit Michael Wollny über den Schaffensprozess für die Musik zu Bauhaus 100, die Freiheit des Jazz und das Wesen wahrhaft beseelter Kunst.
Von Oliver Uschmann
11. September 2018, Leipzig. Das Loft von Michael Wollny in der Leipziger Ostvorstadt sieht immer noch so aus, als hätte er es gestern erst bezogen. Mag sein, dass weniger getriebene Männer erst mal in aller Ruhe die Teeküche einrichten und Rahmungen alter Konzertposter an die Wände bringen würden. Michael Wollny hat hingegen zu tun. Auf dem Schreibtisch gegenüber dem Flügel stapeln sich Bücher. Die Texte über Philosophie, Musiktheorie und Bauhauskunst setzen sich auf den Dielen fort. Blätterbögen sind beschwert mit dem Gewicht spontaner Lektüre. An der Kopfwand breiten sich Notationen aus, die für den Laien ebenso faszinierend bizarr wirken wie die Formelexperimente eines Mathematikers auf der Suche nach einem neuen Beweis.
Lieber Herr Wollny, ich treffe Sie mitten in der Arbeit zu der Komposition an, die Sie im Januar beim Auftakt des Bauhaus-Jubiläums vor der Rede des Bundespräsidenten aufführen werden. Wie geht man mit so einer Anfrage um, wenn sie ins Haus flattert? Wie war dein Kenntnisstand über das Bauhaus?
Derzeit schwanke ich zwischen Begeisterung und Verzweiflung. (lacht) Vor meinem inneren Auge war da zunächst ein Gefühl für den Ansatz von Design, gleichzeitig spürte ich zwischen meinen Fingern sofort etwas Haptisches. Außerdem eine ganz konkrete Verbindung zum Bauhaus: meine Frau hat einmal in Dessau eine Variation auf das „Triadische Ballett“ getanzt. Es stammt aus der Feder des am Bauhaus arbeitenden Malers Oskar Schlemmer sowie dem Tänzerpaar Albert Burger und Elsa Hötzel. Anlässlich dieser Veranstaltung durften wir drei Tage dort wohnen. Darüberhinaus interessierte mich schon länger der Geist dieser Schule.
Sie meinen die große, ergebnisoffene Zusammenarbeit sämtlicher Disziplinen?
Die Zusammenarbeit der Künste, der Wissenschaften und des Handwerks. Und überraschenderweise auch: der Industrie. Der Gedanke: Was wir hier tun, soll kein singuläres Kunstwerk werden, das irgendwo steht und dem man sich ehrfürchtig nähert, sondern tauglich sein als Blaupause für den Massenmarkt. Reproduzierbar. Ein Prototyp für serielle Fertigung.
Gab es Musikwissenschaft am Bauhaus?
Eine Frage für einen Historiker. Meines Erachtens: keine klassische Musiktheorie, ich weiß aber vom sogenannten Harmonielehre-Unterricht. Gertrud Grunow beschäftigte sich mit der Beziehung von Farbe, Klang und Bewegung. Sie lehrte Harmonik als Ganzes und nicht bloß als musikalische Kategorie. „Tanzen Sie mal Blau!“ war ein typischer, gefürchteter Auftrag an die Studierenden. (lacht) Eine Kompositionsschule gab es aber nicht, obwohl alle, über die ich jetzt lese, ihre enge persönliche Beziehung zur Musik immer betont haben.
Zu welcher Musik?
Es gab einerseits eine Begeisterung für Stile, die streng strukturiert waren und bestimmten Konstruktionsprinzipien folgten. In der Vergangenheit also der Barock und in der damaligen Gegenwart der Zwanzigerjahre die Zwölftonmusik - darunter interessanterweise auch vor allem eine Verbindung zu den Ansätzen von Josef Maria Hauer, der ja eine ganz und gar eigene Theorie von Zwölftonmusik formuliert hat, und dies auch einige Jahre vor Schönberg. Andererseits fanden damals auch die berühmten Bauhaus-Abende statt, auf denen die ganze Disziplin von den Leuten abfiel und man sich vollkommen ausgelassener Musik hingab. Sinnbild dafür war die berühmte Bauhaus-Kapelle. In seltsamen Besetzungen und mit teilweise selbstgebastelten Instrumenten spielten sie wilde Tanzmusik.
Die damalige Presse sprach, nicht ohne Irritation, von einem „rhythmischen Delirium“.
Sie waren deutschlandweit bekannt - sie kombinierten bekannte Gassenhauer mit langen Abschnitten repetetiver, rhythmischer Ekstase. Ich stelle mir vor, vielleicht vergleichbar mit dem, was heute ein Rave wäre.
Oder ein Konzert auf der nächtlichen Zeltbühne des Moers Festivals, bei dem sich die geplanten Stücke in eine stundenlange Session auflösen.
Oder das. Hauptsache, man selbst und das Publikum geraten in eine Art Trance. Ich stelle mir vor, wie Melodien sich verflüchtigen und Texturen Raum geben. Eine sinnliche Form von Minimal Music. Das Entscheidende daran ist das Spannungsverhältnis von Struktur und Formfreiheit, von Konstruktion und Improvisation. Wie am Bauhaus selbst. Einerseits das Strenge, Gebaute. Andererseits das gemeinsame Experiment.
Ein wichtiger Punkt. Strenge und Konstruktion bedeuteten am Bauhaus eben nicht Hierarchie und blinder Gehorsam dem Gelehrten auf dem Katheder gegenüber.
Darauf will ich hinaus. Die Professoren hießen „Meister“. Qua ihrer Erfahrung hatten sie natürliche Autorität, arbeiteten aber in den Werkstätten und Ateliers mit ihren Studierenden auf Augenhöhe. Statt der üblichen Abfolge von Vorlesung, Seminar, Pauken und Prüfung entwickelte man kontinuierlich gemeinsam ein Projekt. Walter Gropius sagte, dass er die Idee des Bauhauses nicht alleine, als seine Sache entwickeln könne, sondern nur in der Gemeinschaft. Wie Shareware.
Das wäre eine heutige Entsprechung dazu. Software mit offenem Quellcode zur Bearbeitung von klugen Köpfen auf der ganzen Welt. Oder die flachen Hierarchien und Campusstrukturen der Kreativwirtschaft. Co-Working-Spaces in den Metropolen. Alles vom Bauhaus vorweggenommen. Wie machen Sie aus den Erkenntnissen über diese Mentalität aber nun Musik? Geben Sie uns einen Einblick in den Gedankenstrom.
Meine allererste Idee ging in Richtung Johann Sebastian Bach, denn es gab damals am Bauhaus den Versuch, seine Musik ins Räumliche zu übertragen und in Plastiken und Skulpturen zu übersetzen. Das habe ich schnell verworfen, weil man sich dadurch nicht dem nähert, was am gesamten Bauhaus-Geist das Spannende ist.
Damit nähert man sich nicht Bauhaus, sondern Bach. So, wie die Studierenden es in Weimar und Dessau damals selbst getan haben.
Richtig. Daher steckte ich zunächst mal tief in den Büchern und fragte mich, was ich mit dem Reichtum der Gedanken anfangen kann.
Wenn doch das gemeinschaftliche Arbeiten und Experimentieren am Bauhaus entscheidend war, müssten sich hier in Ihrem Loft die Jazzkollegen die Klinke für zweisame oder dreisame Improvisationen in die Hand geben.
Das ist bereits geschehen. Neulich war Leafcutter John ein paar Tage hier, der sich in seiner Musik sehr intensiv mit Alltagsgeräuschen und alternativen Steuerungsformen musikalischer Ereignisse auseinandersetzt. Ich habe ihn mit einer WhatsApp-Nachricht ins Projekt geholt, in der ich ihn einfach fragte: „Welche Klänge kommen dir in den Sinn, wenn du an Bauhaus denkst?“ Augenblick, ich zeige Ihnen mal die Antwort. Es lohnt sich, sie zu zitieren. (öffnet den Messenger auf seinem Mobiltelefon) Hier, John schreibt: „Ich denke an Form und Struktur. Gropius lässt mich an Achtzigerjahre-Synthesizer-Klänge denken. An Rekursivität. Einfache Formen, häufig wiederholt, skaliert und rotierend, um daraus wieder komplexere Gebilde zu machen. Bei Paul Klee kommen mir eher wärmere Texturen in den Sinn, ihn höre ich analog.“
Ein perfektes Bewerbungsschreiben für das Projekt.
Er kam mit seinem Laptop hierher und wir machten eine Jam-Session mit Ideen und Klängen statt Instrumenten. Dabei entstand das Konzept, Klangerzeugung mit Materialien zu betreiben, die damals typisch für das Bauhaus gewesen sind. Leafcutter John baut seine Instrumente sowieso grundsätzlich selbst, für jedes Projekt neu. Wie wir diese Materialien in Instrumente umsetzen, weiß ich noch nicht genau, aber wir schreiten sozusagen durch die Werkstätten des Bauhaus und musizieren mittels Glas, Holz, Ton, Metall oder Gewebe. So nähert man sich meines Erachtens der Idee des Bauhauses vielleicht besser an, als einfach etwas zur „Kunst der Fuge“ mit den Gassenhauern von damals zu kombinieren. Oder einen Sprecher Texte zum Bauhaus lesen zu lassen, die man dann vertont.
Das wäre in der Tat alles zu naheliegend.
Zumal auf dem Festival zum Jubiläum sehr viel gelesen und gesprochen wird. Die Herausforderung, die ich mir gestellt habe, besteht also darin, rein klanglich zu arbeiten.
Leafcutter John wird nicht der einzige Kollege sein, den sie involviert haben.
Nein, weiter geht’s mit Wolfgang Heisig, den ich bei den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern kennengelernt habe. Mehrere Pianisten spielten dort klassische Repertoire-Stücke, zwischen denen ich eingeladen war, als Bindeglied zu improvisieren. Wolfgang Heisig ist Experte für die Phonola. Ein mechanischer Apparat, der mittels Lochkartenrollen betrieben wird. Moment. (sucht Bilder des Geräts auf seinem Telefon) Hier. Man stellt das Gerät über die Klaviertastatur, treibt es mit Fußpedalen an, und die Hebel des Gerätes drücken je nach Stanzung in der Lochkartenrolle die Klaviertasten. Die Phonola macht aus jedem Flügel ein Player Piano, also ein selbstspielendes Klavier. Noch vor meiner Session mit John war das meine allererste Idee: Zwei Flügel auf der Bühne. An einem sitze ich, an dem anderen sitzt diese Maschine und spielt neue Kompositionen, die ich hier geschrieben habe und die Wolfgang dann bei sich in der Werkstatt in die Lochkarten gestanzt hat.
Diese Konstellation verkörpert den Geist des Bauhauses, den wir eingangs erwähnt haben. Die Gleichzeitigkeit von strenger Konstruktion und erforschender Spontaneität.
So ist es gedacht. Mein Anteil am Flügel ist wild und organisch, die parallel laufende Lochkartenkomposition unaufhaltsam und unveränderbar. Auch das Handwerkliche kriegt in dieser Konstellation noch einmal eine weitere Bedeutung: Handwerk nicht nur als Beherrschung des eigenen Instruments, sondern ganz praktisch als Verfahren zur Herstellung der Lochkarten. Nebenbei lässt das Alter des Gerätes die Zwanzigerjahre aufleben. Es ist maschinell, aber nicht digital. Man muss es treten. Anders als bei der rein digitalen Klangerzeugung ist der menschliche Faktor somit nicht gänzlich aufgehoben. Zugleich kannst du nur das Tempo beeinflussen, aber nicht die Dynamik der Noten selbst. Nach dem Konzert in Schwerin haben Wolfgang und ich Nummern ausgetauscht, da ich wusste: Mit dem möchte ich eines Tages was machen. Als die Anfrage vom Bauhaus eintrudelte, war der Moment gekommen.
Noch jemand im Team?
Der vierte Mann ist mein guter Labelkollege bei ACT Music, der unglaubliche Sopransaxofonist Emile Parisien, mit dem ich häufiger gemeinsam spiele. Emil ist als instrumentaler Hyperkönner universell einsetzbar und ein virtuoser Improvisator, außerdem verkörpert er den Zustand der vollkommenen Ekstase beim Spielen und bildet somit am stärksten das eine Ende der beiden Pole ab, dessen anderes eben die Klaviermaschine ist. Das wäre das Kernquartett für den Abend. Sicherlich kommt mit Max Stadtfeld noch ein Schlagzeuger hinzu, ein Abgänger der Leipziger Hochschule, den ich in seiner Zeit an der Schule als riesiges Talent an seinem Instrument erleben konnte. Wenn man so will, wird in der Hochschule im Fach Jazz der Bauhausgedanke ja ohnehin gelebt: das Miteinander von Dozenten und Studenten, das gemeinsame Arbeiten an ganz konkreten Projekten.
Das klingt alles bereits sehr überlegt und gar nicht nach Verzweiflung. Wie viele der dicken Bücher dort auf Ihrem Schreibtisch haben Sie schon durchgeackert, um zu diesem Stadium des Schaffensprozesses zu kommen?
Vollständig vermutlich gar keins, wie ich zugeben muss, ich lese immer quer und wild durcheinander. Bis auf einen dicken Folianten über das Black Mountain College in den USA, an dem der interdisziplinäre Geist des Bauhauses ab 1933 weitergelebt wurde, auch durch Emigranten, die dort als Künstler an ihre Zeit in Weimar, Dessau und Berlin angeknüpft haben. Auf dieses College kam ich durch die Beschäftigung mit John Cage, zu dem einige meiner Studenten an der Leipziger Musikhochschule einen Schwerpunkt mitgestaltet habe. Das Buch, das ich am längsten im Regal stehen habe sind die berühmten „Essays über Kunst und Künstler“ von Kandinsky. Diese Texte sind sehr konkret und handlungsanweisend, haben aber gleichzeitig eine aufgeladene Sprache, die mich fasziniert.
Zum Beispiel?
(blättert) Zum Beispiel diese Stelle: „Jede Kunst hat eine eigene Sprache, das heißt die nur ihr eigenen Mittel. So ist jede Kunst etwas in sich Geschlossenes. Jede Kunst ist ein eigenes Leben. Sie ist ein Reich für sich. Der undefinierbare und doch bestimmte Seelenvorgang (Vibration) ist das Ziel der einzelnen Kunstmittel. Ein bestimmter Komplex der Vibrationen - das Ziel eines Werkes.“
Einfacher könnte man sagen: Ein wirklich beseeltes Werk hat einen „Vibe“, der sich nicht in Begriffe fassen lässt. Komplizierter könnte man mit Adorno sagen: „Kunstwerke, die der Betrachtung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, sind keine.“
Ja. Absolut! Und damit komme ich direkt zu einem anderen Buch, das ich gerade mit voller Begeisterung und Zustimmung lese: „Resonanz“ von Hartmut Rosa.
Ein philosophischer Soziologe der Gegenwart. Was hat er mit Bauhaus zu tun?
Womöglich erstmal garnichts. Aber sein Resonanzbegriff bringt es auf den Punkt. Dazu muss ich unbedingt die Geschichte zitieren, mit der er sein Buch beginnt. Passen Sie auf: „Gustav und Vincent, zwei begabte Nachwuchskünstler, nehmen an einem Malwettbewerb teil. Sie haben zwei Wochen Zeit, ein Bild zu einem selbstgewählten Thema zu malen und es dann bei einer Jury einzureichen. Gustav nimmt die Aufgabe sehr ernst. Er weiß, was man zum Malen braucht und wie sich die Qualität eines Bildes steigern lässt: Zunächst besorgt er sich eine stabile Staffelei und die richtige Beleuchtung. Dann macht er sich auf die Suche nach einer hochwertigen Leinwand. Als er sie gefunden hat, bemüht er sich darum, sein Arsenal an Pinseln zu erweitern – er benötigt noch welche für die ganz feinen Linien und für die groben Striche. Nun fehlen ihm noch die richtigen Farben – die leuchtenden und die gedeckten und die matten und die glänzenden und solche, mit denen er die Zwischentöne beliebig anpassen kann. Dann hat er alles, was er braucht. Er repetiert noch einmal kurz die wichtigsten Maltechniken, die er einzusetzen gedenkt, und macht sich dann auf die Suche nach dem richtigen Thema. Was überzeugt ihn? Was begeistert ihn? Was trifft den Nerv der Zeit und ist dennoch nicht platt? Als er schließlich zu malen beginnt, sinkt schon die Sonne des letzten Tages vor Ablauf der Frist. Kürzer ist die Geschichte von Vincent: Er reißt ein Papier von seinem Zeichenblock, holt seinen Wasserfarbkasten, spitzt die Bleistifte, legt seine Lieblings-CD ein und beginnt zu malen: Zunächst ohne klare Vorstellung davon, was er da malt, entsteht nach und nach eine Welt voll Farben und Formen, die ihm stimmig erscheint. Wer wohl den Wettbewerb gewonnen haben mag?“
Ich vermute doch glatt, dass Vincent gewonnen hat.
Vincent, der sofort loslegt und seinem Gefühl folgt, arbeitet quasi prozessorientiert. Gustav verkörpert die übertriebene Reinform des Gegenteils, der Ressourcenorientiertheit. Für diesen Begriff bin ich Hartmut Rosa sehr dankbar, denn er bringt meines Erachtens auf den Punkt, was sich an vielen Ecken und Enden als ein sehr zeitgemäßes Leid erleben lässt. Eine übertriebene Ressourcenfixierung besagt rein garnichts über die Resonanzfähigkeit, vermutet Hartmut Rosa. Das passt eben perfekt zu dem, was Kandinsky „Vibration“ nennt. Zu dem „undefinierbaren und doch bestimmten Seelenvorgang“, den ein Werk in sich tragen und beim Publikum auslösen soll.
Ein Vorgang, der nicht mehr funktioniert, wenn das Werk rein technisch, rein ressourcenorientiert, hergestellt wird.
Sagen wir: das Fokussieren auf Ressourcen ist eine notwendige Ersatzhandlung – nicht mehr und nicht weniger. Die Inspiration, das Kreative bleibt ein Geheimnis. Kandinsky hat ein sehr poetisches Bild dafür. (blättert) Er sagt: „Das Positive, das Schaffende, das Gute, der weiße befruchtende Strahl.“ So, und jetzt kommt’s. Der weiße Strahl hat einen Gegner, eine Kraft, die gegen ihn wirkt: Die „schwarze Hand“.
Das klingt bedrohlich.
Ich zitiere: „Eine schwarze Hand legt sich auf ihre Augen. Die Menschen werden verblendet. Die schwarze Hand gehört dem Hassenden. Der Hassende versucht durch alle Mittel, die Evolution und die Erhöhung zu bremsen. Das Negative, das Zerstörende, das Böse. Das ist die schwarze, todbringende Hand.“ Statt Hass könnte man vielleicht auch einfach „Angst“ sagen.
Übertragen wir das mal auf die Gegenwart und auf einfachere Gebiete. Ein TV-Regisseur berichtet in seiner Biografie von einer aufrichtig bewegenden Szene über das Glück eines Fliegers, die er mit einer ganz speziellen Fassung des Songs „7 Seconds“ von Youssou N‘Dour unterlegen ließ. Dieser Augenblick hatte Vibration, hatte Resonanz. Dann kam die Sendung zur Endabnahme in den NDR und die zuständige Redakteurin meinte: „Das geht nicht. Da muss ‚Über den Wolken‘ gespielt werden. Das wollen die Leute so.“
Mir scheint, die Redakteurin wurde von einer schwarzen Hand geführt.
Nun ist das ein Beispiel aus dem Fernsehen, einem Gebiet voller schwarzer Hände. Auch die Popmusik ist voll von ihnen, weil sie – mit Hartmut Rosa gesprochen – rein „ressourcenorientiert“ Hits konstruiert. Der Jazz steht aber doch grundsätzlich für die Freiheit. Oder gibt es auch in Ihrem Genre die schwarze Hand?
Natürlich, und zwar bereits in mir selbst. Wir hauen uns ja ununterbrochen die schwarze Hand selber um die Ohren, wenn wir damit kämpfen, trotz aller Erfahrung und Erfolg oder Misserfolg beim Schreiben neuer Musik die alte Unschuld zu bewahren. Das ist sehr schwer. Man hat Platten, Stücke, Konzerte gemacht, die „funktionierten“ … ja, und dann?
Der Druck kommt also im Jazz nicht vom Manager oder von der Plattenfirma, wie im Pop, die den Hit noch mal reproduziert haben wollen, sondern aus Ihnen selbst?
Es ist das angehäufte Wissen. Dieses Wissen macht es einem unmöglich, wieder vollkommen naiv zu agieren. Ich kenne kognitive Zustände, in denen bei jedem Ton bereits alle Kadenzen mitschwingen. Vergleichbar mit einem Schachspieler, der hunderte möglicher Züge sieht. Wenn die Naivität wegfällt, bleibt einem nur die bewusste Entscheidung für oder gegen bestimmte Ansätze. Das gilt nicht nur für das Aufnehmen neuer Platten, sondern sogar für Konzertabende auf Tournee.
Inwiefern?
Man spielt einen Abend einen Song, der besonders mit allen Beteiligten resoniert, um bei dem Wort zu bleiben. Dann kommt der nächste Abend. Der Song ist wieder dran. Erinnerungsfetzen des Abends zuvor tauchen auf. Sie sind die schwarze Hand. Sie hemmen. Der weiße Strahl wäre, alles Vorherige zu vergessen und sich wieder ganz naiv und neu in dem Stück zu verlieren. Es zieht sich durchs ganze Leben. Vielleicht kann man mit den Begriffen „Bewusstmachen“ und „Begreifen“ hantieren, das hat unsere Sprache schon sehr schön getrennt. Dinge, die mir ständig bewusst sind, haben das Potential, zerstörerisch zu sein. Dinge, die ich begriffen habe, kann ich ganz naiv anwenden. Da kriegt der Begriff „Handwerk“ eine übergeordnete Bedeutung, den er ermöglicht genaugenommen erst, über die eigenen Grenzen wirklich hinauszugehen.
Das gleiche Paradox wie die Aufforderung: „Sei spontan!“
Als Professor hier an der Musikhochschule begegnet mir dieses Paradox ebenfalls. Wie kommen die Studenten ihrem eigenen Klang näher, wie arbeiten wir an ihrer Entwicklung ohne überall schwarze Hände aufzustellen, die besagen: So und so geht das. Das darfst du. Das darfst du nicht. Wie? Denn einfach zu behaupten, es gäbe gar keine Regeln, funktioniert schließlich auch nicht.
Die Lösung für dieses Problem hatte das Bauhaus im Grunde gefunden.
So ist es. Zum Beispiel dadurch, den künstlerischen Prozess in kleine, beherrschbare Werkstätten herunterzubrechen. In der Hoffnung, dass derjenige, den ich durch all diese berechenbaren Werkinseln hindurch schicke, am Ende damit etwas Größeres anfängt, das nicht berechenbar ist. Nicht berechenbar, aber auch nicht willkürlich.
Genauso, wie Sie jetzt mit John, Wolfgang, Max und Emile die Bauhaus-Aufführung angehen.
Am 16. Januar wird es dort etwas zu hören geben, dessen einzelne Elemente wir im Nachhinein rational definieren können, aber nicht jetzt schon, im Prozess. Es ist unmöglich, das vom Ende her zu denken.
Heben wir einmal kurz ab und schauen aus der Vogelperspektive auf den Jazz als Gesamtphänomen. Nirgendwo schwarze Hände? Oder gab es Phasen in seiner Geschichte, wo er „vom Ende her“ dachte, also wie ein Dienstleister gewisse kommerzielle oder andere Ansprüche bediente?
Es gibt auch im Jazz industriell geprägte Bereiche in dem Sinne, dass man die Produktionskosten für ein Album mindestens wieder einspielen möchte. Oder einspielen muss, damit es überhaupt weitergehen kann. Auf der anderen Seite gibt es Subventions-Strukturen, die Räume aufspannen und Unterstützung geben, die sich nicht rechnen muss.
Ist der Jazz im Laufe seiner Geschichte insgesamt freier und mutiger geworden oder gab es dort Schwankungen in der Innovationsfreude?
Ich würde sagen, bis zu einem gewissen Punkt gab es klare Strömungen und Stilistiken. Der Free Jazz brach diese auf und wendete sich gegen alles. Gegen Hörgewohnheiten, gegen das Instrument, gegen das eigene Publikum. Durch ihn gelangten wir aber zu einer Phase, der die breite Vielfalt aller Stile und Schulen nebeneinander ermöglich hat – so sagte das schon Joachim-Ernst Berendt vor 20 Jahren. In dieser Phase leben wir immer noch. Man kann heute Bebop machen und darin voll aufgehen, während im Proberaum nebenan eine Elektro-Freejazz-Session vonstatten geht.
Wo fängt Jazz eigentlich an und wo hört er auf?
Leonard Bernstein hat sich Ende der Fünfzigerjahre in einem tollen Radioprogramm namens „What is Jazz?“ mit dieser Frage beschäftigt. Er fragte sich: Was ist essentiell für den Jazz? Ist es der Swing? Spielen wir mal einen Blues ohne Swing und prüfen wir. Okay, der Swing ist essentiell. Nächster Punkt. Wie klingt der Blues ohne Blue Notes? Siehe da. Blue Notes sind ebenfalls elementar für den Jazz. So dekliniert die Sendung didaktisch Elemente durch. Am Ende stellt Bernstein etwas Nichtmusikalisches fest, das typisch für den Jazz sei: Die ewige ideologische Debatte zwischen den Traditionalisten und den Progressiven, die sich gegenseitig vorwerfen, den Jazz zu verraten. Das sagt Bernstein zu einer Zeit, wo der Free Jazz noch nicht existierte!
Wie wichtig ist der Aspekt der Unterhaltung im Jazz? Sind die freien und progressiven Formen auch unterhaltend, nur eben für ein Publikum mit höherer Vorbildung?
Ich würde den Unterschied nicht zwischen leichteren und schwereren Formen setzen, sondern zwischen Bedienen und Experiment. Wenn ich dem Publikum liefere, was es sowieso erwartet, unterhalte und bediene ich es selbst dann, wenn es bewusst zu einem Zwölfton- oder Free Jazz-Konzert gekommen ist. Wenn ich wirklich experimentiere, arbeite ich mit offenem Ausgang. Das Publikum ist nicht mehr Konsument, sondern Zeuge. Es begleitet einen Versuch, mit dem wir gemeinsam einen Schritt weiter gehen.
Wie alle Menschen, die im CERN dabei stehen und tatsächlich nicht wissen, was passiert, wenn gleich im Teilchenbeschleuniger die Elementarteilchen aufeinandertreffen.
Bei Konzerten wird hinterher auch manchmal gesagt: Das Experiment hat nicht funktioniert. Es ist gescheitert. Dabei ist das dann oftmals gar nicht der Punkt.
Ihr Konzert für Bauhaus 100 wird also ein Experiment mit Zeugen?
Es wird im Mindesten eine Herausforderung für uns und das Publikum. Zumal die Art der Bühne in der Berliner Akademie der Künste echt außergewöhnlich ist. Die Hinterwand lässt sich hochfahren und dahinter erscheint ein weiterer Zuschauerraum, der allerdings kleiner ist als der andere. Das Publikum sitzt also an zwei Seiten der Bühne und wir spielen in der Mitte, asymmetrisch verschoben. Die Akustik ist völlig neu für mich und somit eine offene Variable in dem Experiment. Die andere offene Variable ist das Publikum
Das jetzt schon mitzudenken ist aber die schwarze Hand.
So sieht’s aus. Oder auch, wenn ich denke: Ich darf das nicht machen, das ist zu komplex. Oder: Ich darf das nicht machen, das ist zu banal. Schon sitze ich in der Falle. Der Schaffensprozess ist ein Kampf gegen die schwarze Hand. Oder versöhnlicher das Erwarten des weißen Strahls.